Karlspreis an Papst Franziskus:Franziskus: "Was ist mit dir los, Europa?"

Papst Franziskus erhält den Karlspreis - und erinnert die Europäische Union an ihre Wurzeln. Er träume von einem Europa, in dem es kein Verbrechen ist, Migrant zu sein.

Von Paul Munzinger

Der Karlspreis ehrt Personen, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben. Dieses Jahr erhält ihn Papst Franziskus. Die Stadt Aachen hat bewusst einen Mann ausgezeichnet, der sich um Europa als unbequemer Mahner verdient gemacht hat, mit zum Teil deutlichen Worten. Oder, wie es Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, bei der Verleihung im Vatikan formulierte: Er schätze es sehr, sagte Juncker an Franziskus gerichtet, "dass Sie uns ins Gewissen reden".

Ein Mahner also, der mit der Autorität seines Amtes und dem Blick von außen dazwischenruft, der aufweckt: Franziskus, der Papst aus Argentinien, hat diese Rolle in seiner Dankesrede vor den führenden EU-Politikern sowie unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi erneut angenommen: Er forderte die europäischen Staaten auf, sich angesichts schwieriger Zeiten wieder auf ihre gemeinsamen Werte zu besinnen und nationalen Egoismen entschlossen entgegenzutreten. Franziskus warb für einen "neuen europäischen Humanismus".

"Die Kreativität, der Geist, die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten und aus den eigenen Grenzen hinauszugehen, gehören zur Seele Europas", sagte Franziskus. Aus diesem Geist der Erneuerung heraus habe Europa der Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen, "dass ein neuer Anfang möglich war". Doch jenes "Klima des Neuen, jener brennende Wunsch, die Einheit aufzubauen", so Franziskus, "scheinen immer mehr erloschen".

Franziskus erinnerte an seine Rede im Europaparlament im November 2014, als er Europa mit einer "unfruchtbaren Frau" verglichen hatte, unfähig, Neues hervorzubringen. "Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?", fragte Franziskus im Apostolischen Palast. "Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten?"

Die Politiker von heute müssten die "Idee Europa" aktualisieren

Der Papst appellierte daran, sich die Botschaft der Gründerväter Europas in Erinnerung zu rufen. So habe Robert Schuman eine "Solidarität der Tat" eingefordert und gerade jetzt, "in dieser unserer zerrissenen und verwundeten Welt", so Franziskus, sei es notwendig, zu dieser Solidarität der Tat zurückzukehren. Die heutigen Politiker müssten sich der Herausforderung stellen, die "Idee Europa" zu aktualisieren, die auf der Fähigkeit zur Integration, der Fähigkeit zum Dialog und der Fähigkeit, etwas hervorzubringen, beruhe.

"Die europäische Integration", so Franziskus, "ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität." Franziskus bezog dabei Zivilisationen und Völker außerhalb der gegenwärtigen EU-Grenzen explizit mit ein. Echte Integration, sagte Franziskus mit Blick auf die Flüchtlinge in Europa, bedürfe einer kulturellen, nicht allein einer geografischen Eingliederung. Sie müsse jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglichen. Alle Bestrebungen zur Vereinheitlichung dagegen verurteilten Europa "zu einer grausamen Armut: jene der Exklusion". Er träume von einem Europa, so Franziskus, "in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist".

Der Papst richtete seine Rede ausdrücklich nicht nur an die Politik, sondern an alle Europäer. Die gegenwärtige Situation sei ein "deutlicher Appell an die persönliche und soziale Verantwortung". Bloße Zaungäste lasse sie nicht zu.

Franziskus appellierte aber nicht allein an die Integration der Flüchtlinge, er warb auch dafür, die jungen Europäer in das europäische Projekt einzubinden - und dies gelinge nur, wenn man ihnen nicht die Arbeit vorenthalte. Andernfalls riskiere der Kontinent, dass junge Europäer "auf der Suche nach Idealen und nach einem Zugehörigkeitsgefühl" anderswohin gingen. Wohin genau, das ließ der Papst offen. Es sei nötig, wiederholte Franziskus eine bereits mehrfach geäußerte Forderung, "von einer Wirtschaft, die auf den Verdienst und den Profit auf der Basis von Spekulation und Darlehen auf Zinsen zielt, zu einer sozialen Wirtschaft überzugehen, die in die Menschen investiert, indem sie Arbeitsplätze und Qualifikation schafft".

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