Franziskus im Europaparlament:Papst will Europa, das "sich nicht um Wirtschaft dreht"

  • Papst Franziskus fordert in seiner Rede im Europaparlament in Straßburg, dass Europa sich an der Würde des Menschen orientieren müsse. Die EU solle sich "nicht um die Wirtschaft drehen". Er verlangt von den Regierenden Impulse für den Arbeitsmarkt.
  • Das Kirchenoberhaupt verlangt, dass Flüchtlingsdramen wie vor der italienischen Küste verhindert werden und fordert eine gesamteuropäische Kraftanstrengung. Das Mittelmeer dürfte nicht zu einem "großen Friedhof" werden.
  • Franziskus würdigt die Europäische Idee, vergleicht aber den aktuellen Zustand Europas mit einer unfruchtbaren Großmutter. Der Pontifex fordert die Rückbesinnung auf frühere Werte.

Von Oliver Das Gupta

Gleich nach seiner Ankunft im Straßburger Europaparlament trifft Jorge Mario Bergoglio erst einmal eine 97 Jahre alte Bekannte. Helma Schmidt aus Boppard hatte den Argentinier 1985 mehrere Wochen in ihrem Haus wohnen lassen, am Küchentisch sollen Deutsch-Vokabeln gepaukt worden sein.

Wie gut das Lernen während der "zwei schönen Monate" vor fast drei Jahrzehnten dem heutigen Papst getan hat, zeigt sich wenig später im Plenum der Volksvertretung. Da verzichtet Franziskus auf Kopfhörer und hört den Begrüßungsworten des deutschen Parlamentspräsidenten Martin Schulz einfach so zu. Der Sozialdemokrat erwähnt unter anderem den Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen, ein Stichwort, das Franziskus in seiner Rede aufnimmt.

Gleich zu Beginn seiner Rede kommt der Kopf der katholischen Kirche zum Kern: die Menschenwürde und Europa. Nach ein paar Sätzen, in der er das Bemühen der EU um die Menschenrechte würdigt, beginnt der Pontifex Dinge anzusprechen, die den Anwesenden mitunter sichtbar unangenehm waren:

  • Europaskepsis: Das Misstrauen der europäischen Bürger gegenüber europäischen Institutionen, beklagt der Papst und vermisst Ideale. Man bekomme den "Gesamteindruck der Müdigkeit und Alterung" von diesem Europa, sagt er. Es sei die "Impression eines Europas, das Großmutter und nicht mehr fruchtbar und lebendig ist".
  • Europas Ausrichtung: Der Papst kritisiert "egoistische Lebensstile", die durch "unhaltbaren Überfluss" und von Ignoranz Ärmeren gegenüber geprägt seien. Er vermisst die Solidarität der Bürger untereinander, spricht auch von "Wegwerf-Kultur" und "hemmungslosem Konsumismus". Der Papst ruft dazu auf, sich auf die humanistischen wie christlichen Wurzeln Europas zurückzubesinnen. Er warnt davor, Europa nach der Ökonomie auszurichten. Wörtlich sagt er: "Liebe Europaabgeordnete, die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte."
  • Konsumgesellschaft: Der Papst kommt an einer anderen Stelle auf den Überfluss in der westlichen Welt zu sprechen und verweist auf die Nahrungsmittelnot in vielen südlichen Ländern. "Es ist nicht tolerierbar, dass Millionen von Menschen in der Welt den Hungertod sterben, während jeden Tag Tonnen von Lebensmitteln von unseren Tischen weggeworfen werden."
  • Arbeitslosigkeit: Franziskus betont in seiner Ansprache, wie auch schon zu früheren Gelegenheiten, wie sehr Arbeitslosigkeit gerade junge Menschen frustiert. An die Regierenden hat das Oberhaupt der katholischen Kirche eine klare Forderung: "Es ist Zeit, die Beschäftigungspolitik zu fördern", sagt er. Wenn man den Arbeitsmarkt flexibilisiere, müsse gleichzeitig gesichert sein, dass die Arbeitnehmer nicht ausgebeutet werden können. Die Menschen müssen mit ihrem Einkommen eine Familie finanzieren können.
  • Flüchtlingsproblematik: Der Pontifex verlangt, dass Flüchtlingsdramen wie vor der italienischen Küste verhindert werden. Das Mittelmeer dürfte nicht zu einem "großen Friedhof" werden. Er kritisiert "das Fehlen gegenseitiger Unterstützung" in der EU und fordert eine gesamteuropäische Kraftanstrengung. Mit Blick auf die kontrovers geführte Zuwanderungsdebatte sagt er, Europa wird imstande sein, die Rechte seiner Bürger zu schützen und gleichzeitig die Aufnahme von Migranten zu garantieren. Gleichzeitig müsse die EU dafür sorgen, Konflikte in den Herkunftsländern zu entschärfen, "anstatt Politik der Eigeninteressen zu betreiben, die diese Konflikte steigert und nährt".
  • Umweltschutz: Der Papst lobt die Anstrengungen Europas, die Ökologie zu bewahren - für ihn ist es der Schutz von Gottes Schöpfung. An einer Stelle betont er seine Wertschätzung für "alternative Energiequellen".

Warnung vor Fundamentalisten jeder Couleur

Pope Francis at the European Parliament

Der Papst vor seiner Rede im Europaparlament mit seiner früheren Herbergsmutter Helma Schmidt und dem Parlamentspräsidenten Martin Schulz

(Foto: dpa)

Immer wieder wird Franziskus von Applaus unterbrochen, der nicht überbordend gerät, aber deutlich zu vernehmen ist. Einige Abgeordnete bleiben stumm, andere spielen mit dem Handy. Manchen gefrieren die Gesichtszüge, wenn der Papst über Verschwendung und Flüchtlingsdramen spricht. Interessant ist nicht nur, dass er nicht nur seinen deutschen Vorgänger Benedikt XVI. mehrmals zitiert.

Franziskus spricht von Familien, lässt aber offen, ob es sich um Verheiratete, Alleinerziehende oder Homosexuelle handelt. Er redet von Humanismus und Christentum als Wurzeln Europas, er hebt die katholische Kirche nicht hervor. Und er räumt, mit Blick auf die Vergangenheit, "Konflikte und Fehler" ein. Franziskus spricht allgemein von Frieden, doch zur Ukraine-Krise konkret sagt er nichts.

In einer zweiten Rede, die er anschließend vor dem Europarat hält, schlägt er ähnliche Töne an. Er spricht von der "Würde der Arbeit", verurteilt Waffenexporte und redet von der Aufnahme von Migranten, die als Erstes die Annerkennung ihrer Menschenwürde benötigten. Besonders bemerkenswert ist folgende Passage des Argentiniers:

"Aus christlicher Sicht sind Vernunft und Glaube, Religion und Gesellschaft berufen, einander zu erhellen, indem sie sich gegenseitig unterstützen und, falls nötig, sich wechselseitig von den ideologischen Extremismen läutern, in die sie fallen können. Die gesamte europäische Gesellschaft kann aus einer neu belebten Verbindung zwischen den beiden Bereichen nur Nutzen ziehen, sei es, um einem religiösen Fundamentalismus entgegenzuwirken, der vor allem ein Feind Gottes ist, sei es, um einer "beschränkten" Vernunft abzuhelfen, die dem Menschen nicht zur Ehre gereicht."

Ein Papst, der meint, dass sich Vernunft und Glaube, Religion und Gesellschaft gegenseitig vor extremistischen Auswüchsen schützen sollten - und damit zur Kirchenkritik einlädt?

Ein Kirchenoberhaupt, der vor "religiösem Fundamentalismus" jeder Couleur warnt - und damit offenkundig auch die katholischen Betonköpfe miteinschließt?

Wahrlich, dieser Argentinier ist immer für Überraschungen gut.

Linktipps

  • Die Rede vor dem Europarat im Wortlaut finden Sie hier
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