Europa und die Türkei:EU wird Erdoğan mit Respekt überschütten

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Der Wahlsieg der AKP macht die Türkei nicht demokratischer. Doch die EU ist wild entschlossen, Präsident Erdoğan zu hofieren. Sie braucht ihn mehr als umgekehrt.

Von Daniel Brössler

Drei Sätze kurz ist die erste offizielle Reaktion der Europäischen Kommission nach dem triumphalen Wahlsieg der konservativ-islamischen AKP in der Türkei. In der Erklärung, gezeichnet von der Außenbeauftragten Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn, wird die hohe Wahlbeteiligung gelobt, der angeblich "starke Einsatz" der Türken für die Demokratie gewürdigt und der Wille zum Ausbau der Zusammenarbeit "zum Wohle aller unserer Bürger" bekundet. Jedes Wörtchen in dem knappen Kommuniqué ist zuvor mit Sicherheit penibel gewogen und auf die mögliche Wirkung auf einen einzelnen Herrn in Ankara hin überprüft werden - Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Welt müsse nun Respekt zeigen, verlangte dieser.

Was Europa betrifft, so muss sich Erdoğan da erst einmal keine Sorgen mehr machen. Die EU ist wild entschlossen, ihn mit Respekt zu überschütten. "Wir denken, dass eine stabile Regierung hilfreich sein kann bei der Umsetzung des Aktionsplans", ist von EU-Diplomaten zu hören. Den Aktionsplan hatte der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, mit der Regierung in Ankara ausgehandelt, um sich der Hilfe der Türkei in der Flüchtlingskrise zu versichern. Grob gesagt sieht er Geld gegen Grenzschutz vor, soll also dafür sorgen, dass weniger Flüchtlinge sich von der Türkei aus auf den Weg gen Europa machen. Angesichts der chaotischen Zustände auf der Westbalkan-Route und dem steigenden innenpolitischen Druck in Deutschland braucht die EU hier dringend Erfolge.

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Erdoğan sollte im Wahlkampf nicht mit schlechten Noten gereizt werden

Die EU braucht die Türkei mittlerweile mehr als umgekehrt. Wie sehr sich die Kräfteverhältnisse verändert haben, machte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vergangene Woche im Europäischen Parlament deutlich. Ja, es gebe ungelöste Fragen etwa bei den Menschenrechten und der Pressefreiheit, räumte er ein. Um dann klarzustellen: "Aber das bringt nichts. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen mit der Türkei zusammenarbeiten." Während des Wahlkampfes vermied es Juncker auch, die Fortschrittsberichte, die alljährlichen Zeugnisse der EU-Beitrittskandidaten, zu veröffentlichen. Offiziell ging es darum, einen guten Termin abzuwarten, der mediale Aufmerksamkeit garantiert. Tatsächlich aber sollte Erdoğan im Wahlkampf nicht mit schlechten Noten gereizt werden.

Die Veröffentlichung ist nun für den 5. November geplant, in der Woche darauf wird er dann im Europäischen Parlament präsentiert. Einmal auf dem Tisch, dürfte der Bericht das ganze Dilemma der europäischen Türkei-Politik offenbaren. Einerseits nämlich verspricht die EU - ganz wie von Erdoğan gewünscht - eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen. Andererseits aber wird nach allem, was bisher bekannt ist, der Fortschrittsbericht wie in den Vorjahren etliche Defizite monieren. So dürfte ein neues Sicherheitsgesetz kritisiert werden, das die Befugnisse der Polizei bei Festnahmen, Durchsuchungen und Schusswaffengebrauch erweitert. Auch Einschränkungen der Medienfreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz dürften zur Sprache kommen.

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Normalerweise ist es so, dass die EU in Beitrittsverhandlungen ihre ganze Stärke ausspielt. Als Verhandlungen von Gleich zu Gleich sind sie gar nicht gedacht. Vielmehr soll der Kandidat sich an Gegebenheiten und Recht in der EU anpassen, also den acquis communautaire übernehmen, der auf 130 000 Seiten fixiert ist. Unterteilt sind die Verhandlungen in 35 Kapitel, die alles regeln vom freien Warenverkehr bis hin zur Finanzkontrolle. Seit Beginn der Verhandlungen mit der Türkei 2005 sind 14 Kapitel eröffnet und ein einziges geschlossen worden. Stets ist der "offene Ausgang" der Verhandlungen betont worden, was damit zu tun hat, dass einige Regierungen eine Aufnahme der Türkei mit größter Skepsis sehen. Für Erdoğan wiederum sind die Verhandlungen eine Frage der nationalen Würde und eben jenes Respektes, den er einfordert. Wie sehr die EU in ihrer Not bereit ist, diesen Durst nach Anerkennung zu stillen, wurde beim jüngsten Gipfel klar. Der Beitrittsprozess müsse "mit neuer Energie weitergeführt werden", verlangten die Staats- und Regierungschefs.

Die EU-Kommission ist darauf vorbereitet, noch bis Ende des Jahres das Kapitel 17 zu eröffnen. Darin geht es um die Wirtschafts- und Währungsunion. Außerdem wird an verstärkte Vorarbeiten zu den Kapiteln 23 und 24 gedacht, in denen es um die heiklen Fragen Justiz, Grundrechte, Freiheit und Sicherheit geht. Danach hängt die Eröffnung weiterer Kapitel aber von Bewegung im Streit über den Status von Zypern ab.

Neben neuer Dynamik bei den Beitrittsverhandlungen sind der türkischen Seite vor allem Fortschritte im Reiseverkehr wichtig. Die EU und die Türkei verhandeln über eine Liberalisierung der Visabestimmungen, wobei allerdings nicht mit einem raschen Wegfall der generellen Visumspflicht für Türken bei Reisen in die EU zu rechnen ist. Wohl aber werden rasche Erleichterungen etwa für Geschäftsleute oder Rentner in Aussicht gestellt.

Wohl noch in diesem Jahr soll es einen EU-Türkei-Gipfel geben

Schon bald sollen die Verhandlungen über den Aktionsplan zur Entschärfung der Flüchtlingskrise fortgeführt werden. Seine nächste Reise in die Türkei soll Vizepräsident Timmermans für den 9. November planen. Bis dahin werden die Türken Fortschritte in den Bereichen Beitrittsverhandlungen, Visa und Finanzen sehen wollen. Drei Milliarden Euro Unterstützung verlangt die Türkei zum Ausgleich der Lasten, die sie mit der Aufnahme von mehr als zwei Millionen Flüchtlingen aus Syrien schultert. Wohl noch in diesem Jahr soll es einen EU-Türkei-Gipfel geben - zur Problemlösung, aber auch um dem Geltungsbedürfnis Edoğans Rechnung zu tragen.

"Zwei Seelen wohnen in meiner Brust", sagt der Vorsitzende im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments, Elmar Brok (CDU), wenn er über das Wahlergebnis in der Türkei spricht. Allen Beteiligten in Brüssel ist klar, dass Erdoğans wiedergewonnene Stärke die Türkei nicht demokratischer macht. Aber nun könne es gelingen, sagt Brok, die Verhandlungen über das Vorgehen in der Flüchtlingskrise "schnell abzuschließen". Die Türkei-Expertin Renate Sommer, ebenfalls für die CDU im Europaparlament, aber warnt: "Was dem Land nun bevorsteht, ist eine mindestens weiterhin autoritäre, wenn nicht sogar schlimmere Staatsführung aus dem Präsidentenpalast heraus."

© SZ vom 03.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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