EU-Gipfel:Merkel: "Vertragsänderungen sind nicht das Gebot der Stunde"

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Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigt sich zuversichtlich: Nicht "mehr" oder "weniger" Europa sei jetzt die Frage. (Foto: REUTERS)
  • Nach dem Gipfel demonstriert die Europäische Union Zuversicht. Der Austritt von Großbritannien müsse in "geschlossener Weise vonstatten gehen."
  • Wie die künftigen Beziehungen zu Großbritannien aussehen werden, bleibt weiterhin unklar.
  • Die verbliebenen Mitgliedstaaten wollen die bestehenden Verträge nicht in Reaktion auf das Brexit-Votum ändern. Doch Reformen soll trotzdem geben.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner, Brüssel

An einem Abend wie diesem ist das schon erstaunlich, aber die Begeisterung der Kanzlerin ist echt und ihr Lob frei von Ironie. "Der Artikel 50 ist so wunderbar formuliert, wie ihn Europa überhaupt nur formulieren kann", beginnt sie ihren Vortrag. Erst stelle einer einen Antrag - also Großbritannien - und dann verhandele die Union über den Austritt. "Die Union - wer ist die Union?", fragt Merkel euphorisiert. "Das bringt uns gleich wieder zu einer Reflexionsphase", antwortet sie selbst. "Die Union sind ihre drei Institutionen: der Rat, die Kommission und das Parlament - auch gleich schön mit den drei Artikeln: der, die, das."

Gerafft laufen die Erläuterungen der Kanzlerin darauf hinaus, dass Austrittsverhandlungen maßgeblich von der EU-Kommission mit ihrem Fachwissen und ihrer Manpower zu bestreiten sein werden, das aber stets unter dem wachsamen Auge des Europäischen Rates - also der Mitgliedstaaten - und des Europäischen Parlaments.

Stimmt schon, die EU erlebt "einen Einschnitt, einen historischen Moment", wie Merkel einräumt, doch gerade ihr Vortrag zeugt von ihrem Glauben an die tiefste aller Brüsseler Weisheiten: Wir haben einen Prozess, alles wird gut.

Informelles EU-Treffen ohne Großbritannien

Der Ausgang des britischen Referendums hat der EU einen Schock versetzt, doch am Ende von zwei Gipfeltagen ist die Union fast schon wieder bei sich. "Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU muss in geordneter Weise vonstatten gehen", liest sich das in einer Abschlusserklärung, die - und das ist wirklich historisch - nur von den Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden Staaten verabschiedet wird. Am zweiten Gipfeltag hat Ratspräsident Donald Tusk zu einem informellen EU-Treffen geladen - dem ersten ohne Briten seit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs vor 43 Jahren.

"Artikel 50 ist die Rechtsgrundlage für dieses Verfahren. Es ist Sache der britischen Regierung, dem Europäischen Rat mitzuteilen, dass das Vereinigte Königreich beabsichtigt, aus der Union auszutreten", postulieren die 27 in ihrer Erklärung, Das solle "so schnell wie möglich" geschehen.

Und dann folgt der entscheidende Satz: "Vor Eingang dieser Mitteilung kann es keine wie auch immer gearteten Verhandlungen geben." Es ist ein Satz, in dem die - aus britischer Sicht - ganze bittere Logik der Verhandlungen lauert: Großbritannien hat die schlechteren Karten. Jahrelang ging es darum, die Briten zu halten. Das war der Londoner Hebel. Nun kann Großbritannien mit nichts mehr drohen, außer damit, doch nicht auszutreten.

Aber genau dies scheint, glaubt man David Cameron, keine ernsthafte Option darzustellen, weder für ihn selbst noch für seinen Nachfolger, dem er es überlässt, Europa über den britischen Austrittswunsch in Kenntnis zu setzen. "Ich bin ein Demokrat", wiederholt der Premier nach dem Gipfel gleich dreimal; selbstverständlich hätte er lieber gewonnen, aber nun habe der Wähler eben sein Urteil gefällt, das es zu akzeptieren gelte. Der eine oder andere Zuhörer mag sich in diesem historischen Moment vielleicht etwas weniger Sportsgeist und etwas mehr Zerknirschung von Cameron gewünscht haben.

Immerhin soll er sich zumindest gegenüber den Kollegen reuiger gezeigt haben. Und die haben offenbar nicht einmal ordentlich geschimpft mit ihm - zumindest nicht in großer Runde. "Groll, Ärger, das ist keine Kategorie des politischen Handelns", sagt Merkel. Viele hätten stattdessen ihr Bedauern, ihre Traurigkeit zum Ausdruck gebracht, erzählt Cameron, einige hätten gar erinnert an glorreiche Zeiten, als etwa an der Somme Briten und Franzosen "für die Demokratie und unsere Werte gemeinsam kämpften und starben". Niemand jedenfalls habe ihn gedrängt, nun "sofort" den Austritt gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags zu verkünden.

Wie die künftige Beziehung Großbritanniens zur EU gestaltet wird, ob nach dem Modell Norwegen, Schweiz, Uruguay oder ganz anders, bleibt also noch lange Zeit offen. "Ernsthaft und ruhig" hätten die verbliebenen 27 über das britische Referendum am Mittwoch diskutiert, berichtet Tusk. Das Vereinigte Königreich werde ein "enger Partner" der EU bleiben.

Eines jedoch wiederholten Tusk wie Merkel bis zum Überdruss: Wenn das Ex-Mitglied weiterhin die gewaltigen Vorteile des Binnenmarkts genießen wolle, müsse es auch alle vier Grundfreiheiten dieses Marktes übernehmen, die nicht nur Kapital, Waren und Dienstleistungen einschließen, sondern auch die Personenfreizügigkeit. Und zwar "ohne Nuancen", wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker betont.

Kein Rücktritt von Juncker

Eine Frage ist da noch: Wie weiter mit der EU, welche Konsequenzen soll die Union aus dem Brexit ziehen? Zumindest keine persönlichen, meint Juncker, der von mancherlei Seite zum Rücktritt aufgefordert worden ist. "Ich lasse mich von der Presse weder ermutigen noch entmutigen", sagt er, das habe er in 30 Jahren Politik gelernt. Ansonsten gehe es jetzt nicht um eine Änderung der europäischen Verträge, einen Konvent oder eine "unreflektierte Vertiefung". Nicht einmal das Arbeitsprogramm seiner Behörde müsse geändert werden. Denn: "Wir müssen den Reformprozess nur beschleunigen."

Ähnlich argumentiert Merkel: Nicht "mehr" oder "weniger" Europa sei jetzt die Frage, betont sie, die Resultate müssten besser werden. Der Trend sei: "Keine Vertragsänderungen. Das ist jetzt nicht das Gebot der Stunde." Und dann schlägt sie wieder durch, die Liebe der Kanzlerin zum Text der bestehenden Verträge. Der Lissabon-Vertrag, kaum zehn Jahre alt, sei doch eine "sehr, sehr gute Grundlage".

Neue Geschlossenheit nach dem Brexit

Das sagen auf die ein oder andere Weise fast alle aus dem Kreis der Chefs. Fast wirkt es so, als hätten sie über den Verlust Großbritanniens zu neuer Gemeinsamkeit gefunden. Und sei es nur, um jetzt Stärke und Entschlossenheit gegenüber London zeigen zu können. Doch wie weit trägt die Gemeinsamkeit? Die Schlusserklärung bleibt vage.

Von "Sicherheit, Beschäftigung und Wachstum" ist da die Rede. Im Grunde wissen die vielfach zerstrittenen Restmitglieder des europäischen Clubs nur eines mit einiger Gewissheit: dass sie sich, wie es in dem Dokument heißt, entschlossen haben, "vereint zu bleiben", bereit, "jegliche Schwierigkeiten, die sich aus der gegenwärtigen Situation ergeben, zu überwinden".

© SZ vom 30.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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