Anschlag in Nizza:Wie die französische Politik mit der Motivsuche umgeht

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Von links: Außenminister Ayrault, Präsident Hollande und Premierminister Valls am 16. Juli in Paris. (Foto: dpa)

Der IS will Urheber der Gräueltat von Nizza sein. Französische Politiker demonstrieren neben Wut und Trauer vor allem Uneinigkeit. Ein Überblick über die Debatte und Schuldzuweisungen.

Von Dorothea Grass

Die Frage nach dem Motiv des 31-jährigen Täters, der am Abend des französischen Nationalfeiertags in Nizza mit einem Mehrtonner in die Menschenmenge fuhr und dabei 84 Menschen tötete und mehr als 200 verletzte, treibt ganz Frankreich um. Im Netz hat sich der sogenannte Islamische Staat zu der Tat bekannt. Unabhängig verifiziert werden konnte dies bislang aber nicht.

Gestern Abend erst hatten sich der Premierminister des Landes, Manuel Valls, und der Innenminister Bernard Cazeneuve in einer Fernseh-Liveübertragung des Senders TF1 gegenseitig widersprochen. Cazeneuve weigerte sich, die Tat radikalen Islamisten zuzuschreiben. Für ihn sei es noch zu früh, eine solche Aussage treffen zu können. Kurz zuvor hatte Ministerpräsident Valls dem TF1-Moderator geantwortet, Mohamed Lahouaiej Bouhlel sei "zweifellos" sowie "auf die eine oder andere Weise" mit dem radikalisierten Islam verbunden gewesen. Was es nun gelte herauszufinden, sei, welche Verbindungen genau zwischen dem Attentäter und terroristischen Organisationen bestünden.

Danach gefragt, äußerte Cazeneuve, der während der Sendung neben Valls saß, eine andere Meinung. Er weigere sich, die Tat einer radikalen islamistischen Vereinigung zuzuordnen. Informationen, die eine solche Aussage stützen, würden bislang nicht vorliegen, so Cazeneuve. Der Täter sei bei den Nachrichtendiensten des Landes in punkto Terrorismus ein unbeschriebenes Blatt.

Obwohl beide der gleichen (sozialistischen) Partei und Regierung angehören, zeigte die Auseinandersetzung die Uneinigkeit innerhalb des Landes im Umgang mit dem Terror umtreibt.

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Einigkeit besteht jedoch im Schock, der unter den Repräsentanten des Staates herrscht.

Kurz nach Bekanntwerden des Attentats verlässt der französische Präsident François Hollande das Theaterfestival von Avignon in Richtung Paris. Dort trifft er in der Nacht Premierminister Manuel Valls im Krisenzentrum am Place Beauvau. Innenminister Bernard Cazeneuve hat sich zu dem Zeitpunkt bereits auf den Weg nach Nizza gemacht.

Um 3.45 Uhr hält Staatschef Hollande am Freitagmorgen eine Ansprache im Fernsehen. Darin will er keinen Zweifel an der Urheberschaft des Anschlags aufkommen lassen: Islamistische Terroristen seien dafür verantwortlich. Umgehend verkündet Hollande eine Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich, der ursprünglich am 26. Juli hätte enden sollen. Ebenso verlängert werde die "Opération Sentinelle", die seit dem Attentat auf die Charlie Hebdo-Redaktion, in Kraft ist. Sie sieht eine permanente Überwachung besonders gefährdeter Objekte wie Schulen, öffentliche Einrichtungen oder Synagogen vor. Mehrere tausend Soldaten sind seitdem jeden Tag dafür im Einsatz. Das Vorgehen kostet den Staat pro Tag eine Million Euro.

Den militärischen Einsatz Frankreichs in Syrien und im Irak werde sein Land verstärken, so Hollande weiter.

In der Nacht kommen weitere Reaktionen von Regierungsmitgliedern hinzu. Einhellig wird die Tat verurteilt. Auf Twitter schreibt der sozialistische Premierminister Valls: "Die Stadt Nizza wurde an unserem Nationalfeiertag vom Terrorismus getroffen. Unendlicher Schmerz, das Land befindet sich in Trauer. Die Franzosen werden dem entgegentreten."

Emmanuel Macron, Wirtschaftsminister des Landes, schreibt: "Von ganzem Herzen bei den Opfern der abscheulichen Attacke von Nizza und ihren Angehörigen. Wir werden nicht aufgeben. Mut bewahren."

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Auf Facebook reflektiert der Gründer der französischen Linken, Jean-Luc Mélenchon, die Tragödie an der Strandpromenande und ruft zum Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen auf. Nur in ihrer Teilhabe am Leid der anderen würden sich die Menschen vergewissern, dass sie Menschen blieben - in einer Welt, die zu oft zu wenig menschlich sei. Genau das Gefühl habe dem Täter gefehlt: dass alle Menschen gleich seien und dass alles, was ihnen zustößt auch alle gleichermaßen betrifft.

Doch es wird auch umgehend Kritik an der Regierung Hollande laut. Christian Estrosi, konservativer Politiker, langjähriger Bürgermeister von Nizza und heute Präsident der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur fordert von der Regierung Hollande einen umgehenden "Ruck". In einem Interview wirft er Hollande Desorganisiertheit vor. Warum, so schreibt er auch auf Twitter, habe die Regierung am Tag des Anschlags den Ausnahmezustand aufgehoben, um ihn am Tag danach wieder weiterzuführen?

In weiteren Tweets berichtet Estrosi vom Krisentisch, von einem Besuch im Krankenhaus und der Unterstützung seines Parteikollegen Nicolas Sarkozy, der ebenfalls nach Nizza eilt. Unterstützung erhält Estrosi von Parteikollege François Fillon, dem Premierminister unter der Regierung Sarkozys.

Alain Juppé, Bürgermeister von Bordeaux und Kandidatsbewerber der Republikaner für die Präsidentschaftswahl 2017 kritisiert: "Wenn alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden wären, wäre das Drama nicht passiert." Man müsse "mehr" tun und zwar "besser" als bisher. "Frankreich ist im Krieg, aber wir benutzen nicht die Waffen des Krieges", kritisiert Éric Ciotti, Abgeordneter der republikanischen Partei des früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy, in einem Interview der konservativen Zeitung Le Figaro. Die Regierung sei zu naiv.

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Die Frage nach der Täterschaft stellt sich für die Rechtsextremen nicht. Marine Le-Pen, Vorsitzende des Front National, fordert eine weitere Kriegserklärung an den islamistischen Fundamentalismus. Ihre Nichte, Marion Maréchal-Le Pen, Front-National-Abgeordnete für das Département Vaucluse, kritisiert die Strafrechtspolitik Frankreichs als "ineffizient". In den Gefängnissen könnten Täter ihre Radikalisierung weiter vorantreiben, es gebe zu wenig Platz. Ihr Vorschlag: Gefängnisse eigens für islamistische Straftäter.

Dagegen lobt Premierminister Manuel Valls den Einsatz der Sicherheitskräfte. "Ein Präsidentenwahlkampf ist es nicht wert, dass man das Land spaltet", sagt er an die Adresse der Opposition.

Bernard Cazeneuve, der französische Innenminister, ist am Samstagmittag nun erneut vor die Kameras getreten, um die neuesten Erkenntnisse zum Täter der Öffentlichkeit mitzuteilen. Die Attacke von Nizza beschreibe einen "neuen Attentatstypus" und zeige, wie extrem schwierig es sei, Terrorismus zu bekämpfen. Gemäß neuester Erkenntnisse habe sich der Täter sehr schnell radikalisiert. Er sei den Nachrichtendiensten nicht bekannt gewesen, weil er während der vergangenen Jahre keinerlei Anhaltspunkt für eine Anhängerschaft an die radikalislamistische Ideologie gezeigt habe.

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