Andrew Moravcsik:"Die EU wird traditionell unterschätzt"

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Europa hat auch Fans: Teilnehmer des "March for Europe" am 25. März 2017 in Brüssel. (Foto: AFP)

US-Politikwissenschaftler Andrew Moravcsik erklärt, wieso der Brexit nicht das Ende der EU bedeutet - und warum Europa sich nicht ständig selbst schlechtreden sollte.

Interview von Thomas Kirchner

Manchmal hilft es, die Dinge von außen zu betrachten. Die EU in einer Existenzkrise? Der Brexit der Anfang vom Ende? Andrew Moravcsik, 60, Politikwissenschaftler und EU-Experte an der US-Universität Princeton, hält solche Aussagen für übertrieben. Krisengerede lasse sich nur besser verkaufen als das, was die EU in Wahrheit so erfolgreich mache: das unspektakuläre Lösen von Problemen.

SZ: Aus amerikanischer Sicht: Wie beurteilen Sie den Zustand der Europäischen Union?

Andrew Moravcsik: Er ist besser, als die meisten glauben. Die EU wird traditionell unterschätzt, von ihren Gegnern wie von ihren Befürwortern. Der Kernbereich der Integration war bisher enorm erfolgreich und bleibt es noch immer. Auch durch die Krisen wird das nicht in Frage gestellt. Denken Sie an den Binnenmarkt oder die Ukraine-Politik: Die Sanktionen gegen Russland sind ein Zeichen außerordentlich guter Zusammenarbeit. Nur die Europäer haben da etwas Sinnvolles zustande gebracht, sicherlich nicht die Amerikaner.

Aber zeigt nicht gerade der Brexit, wie schlecht es um Europa steht?

Ich glaube nicht, dass die Briten die Union wirklich verlassen werden. Wie auch immer das Arrangement mit der EU am Ende aussehen wird: London will etwa 95 Prozent des Bestehenden beibehalten. Die Verhandlungsposition Großbritanniens ist wahrscheinlich sogar stärker darauf bedacht, den Status quo zu erhalten, als jene der EU. Die wichtigste Änderung, auf der sie bestehen, ist die Freiheit, in Zukunft selbst über die Aufnahme von Immigranten zu entscheiden. Ansonsten wollen sie kaum etwas verändern. Eigentlich hatten die Briten bislang schon einen guten Deal mit der EU, sie mussten nur das machen, wozu sie auch Lust hatten.

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Das Dokument soll der EU an diesem Mittwoch übergeben werden. Danach haben Brüssel und London zwei Jahre Zeit, sich über die Bedingungen des Austritts zu verständigen.

Das sehen die Brexit-Befürworter anders.

Was die tonangebenden Leute in London betrifft: Ich glaube, sie werden nicht ewig gegen die wahren Interessen ihrer Wähler agieren können. Und damit meine ich eher die Wirtschaft als den Durchschnittsbürger in Nottingham. Es ist fast lustig, was uns der Brexit lehrt: Die Europäische Union ist so wichtig - selbst wenn die EU-Staaten sie auflösen wollten, wären sie gezwungen, sie wieder zu gründen. Die Frage ist höchstens, wie diese neue Institution dann aussähe. Also: Das mit dem Brexit ist unglücklich, die EU-Gegner sind unangenehm. Aber das stellt noch keine fundamentale Herausforderung für Sinn und Form der EU dar.

Aber die EU-Spitze, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Beispiel, spricht selbst von einer tiefen Krise.

Verständlich, das alles ist politisch auch nicht leicht zu bewältigen. Einen wichtigen Grund für die verbreitete Unzufriedenheit sehe ich in der seltsamen Komplizenschaft von EU-Skeptikern und EU-Enthusiasten. Beide Lager wähnen die EU permanent in der Krise. Die Kritiker aus Prinzip, sie wollen ja zeigen, dass die EU scheitert. Die überzeugten Föderalisten wiederum halten an diesem Fünfzigerjahre-Denken fest, dass sich die EU nur in Krisen fortentwickelt. Das sind eigentlich die härtesten Kritiker, nie zufriedenzustellen, sie wollen immer noch mehr, weil dieses oder jenes Problem noch nicht gelöst ist. Ich finde das sehr gefährlich.

Warum?

Zum einen verwirrt es die Europäer. Aber auch Amerikaner oder Chinesen. Ich versuche gelegentlich, Politikern in meinem Land zu erklären, was die EU erreicht hat. Das stößt auf Interesse. Aber dann kommen die Europäer und reden nur noch von der Krise und wie schrecklich alles sei. Und dann fragen sie sich, warum die Amerikaner das Vertrauen in Europa verloren haben.

Was wäre besser?

Europa sollte es so machen wie die USA. Die fallen ohne guten Grund in ein Land ein, nennen wir es Irak, geben dafür eine Billion Dollar aus, mehr als 3500 eigene Soldaten sterben, Hunderttausende im Irak - und dann behaupten sie, das sei ein Beweis ihrer Macht und Tatkraft. Dieser Ansatz ist besser als das ständige Gejammer, dass die EU nicht funktioniere, obwohl sie durchaus Erfolg hat.

Donald Trump werden Sie auch damit nicht zum EU-Freund machen.

Schauen wir uns Trumps Außenpolitik an. Er wollte die China-Politik ändern. Es bleibt bei der Ein-China-Politik. Er wollte Japan Atomwaffen geben. Das wird nicht kommen. Er wollte eine neue Israel-Politik. Es bleibt bei der alten. Er sagte, er sei gegen die Nato, dann schickte er seinen Vize Mike Pence nach Europa, um ihn verkünden zu lassen, dass er die Nato gut findet. Und der deutschen Bundeskanzlerin hat er versichert, dass er ihren Ukraine-Kurs stützen wird. Die Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik werden sich nicht wegen ein paar Tweets von Donald Trump ändern, das gilt auch für die Beurteilung der EU. Man hört schon die ersten US-Beamten sagen, wie wertvoll die EU sei.

Betrachten wir die Krisen, die es ja doch gibt. Die Zunahme der Migration verunsichert viele Menschen, löst Angst aus.

Man muss realistisch bleiben. Egal aus welchem Motiv heraus so viele Menschen aufgenommen wurden: 2015, die Einreise von mehr als einer Million Migranten, darf sich aus politischen Gründen nicht wiederholen. Die Politiker müssen akzeptieren, dass es nur mit einer Begrenzung der Immigration gehen wird. Was tun? Die Idee, die Migranten gleichmäßig über die EU zu verteilen, funktioniert nicht. Ich habe nie verstanden, warum einer nach Polen gehen sollte, wenn er da nicht hin will. Was die EU aber leisten kann, ist Grenzsicherung. Das ist kompliziert und aufwändig, aber das muss und kann sie gemeinsam angehen. Ich bin optimistisch, dass es hier in der nächsten Zeit Fortschritte geben wird, es gibt sie schon. Und das muss auch so sein, denn einen viel höheren Migranten-Anteil werden die meisten europäischen Bevölkerungen bis auf wenige Ausnahmen nicht tolerieren.

Unterdessen wächst aber die Unzufriedenheit, der Ruf nach "weniger Europa" wird lauter.

Umso wichtiger wäre es, den Menschen reinen Wein einzuschenken und zu sagen: Es gibt die EU, um bestimmte Probleme zu lösen; mehr ist nicht geplant. Vor allem bei eher linken Parteien finde ich den Europa-Diskurs völlig unverständlich. Selbst wenn sie Probleme mit dem Euro haben oder mit der Migration, sagen sie das nicht, aus Angst, es würde ihnen als EU-Kritik ausgelegt. Stattdessen sagen sie: Wir brauchen mehr Demokratie. Als ob das die Lösung wäre.

Also braucht es vor allem mehr Ehrlichkeit?

Man wird anders über die EU reden müssen. Es muss mehr um Problemlösungen gehen als um Predigten.

Sie hören sich an wie Angela Merkel.

Die bewundere ich tatsächlich. Ich fand es großartig, wie sie bei der Münchner Sicherheitskonferenz nach der Forderung des US-Vizepräsidenten, die Europäer sollten endlich zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, vor einer "kleinlichen" Diskussion warnte. Ich wüsste gerne, wie das für Pence übersetzt wurde.

Ihr Europa-Optimismus in Ehren, aber es könnte ja sein, dass die Wähler der EU schon bald den Garaus machen. Was ist, wenn Marine Le Pen in Frankreich an die Macht kommt?

Das wird sie nicht. Wähler sind rationale Wesen, und Politik folgt gewissen Strukturen. In Mehrheitssystemen wie in den USA können durchaus Extremisten nach oben kommen. Aber in parlamentarischen Demokratien wie in Westeuropa gibt es Koalitionen der Mitteparteien. Es bestand zum Beispiel keinerlei Anlass, sich Sorgen um die Niederlande zu machen.

Aber Frankreich hat ein anderes System.

Nein. Es gibt zwei Runden bei der Präsidentschaftswahl, und die Aussichten für Marine Le Pen, in der Stichwahl zu gewinnen, sind nicht besser, als sie für ihren Vater waren. Es ist skandalös, wie oft die Zeitungen über Le Pens Siegchancen in der ersten Runde schreiben, ohne die zweite zu erwähnen. Ich weiß, warum das passiert: weil so mehr Zeitungen verkauft werden. Und das ist auch das Tragische an der EU, sie ist schrecklich langweilig. Niemand stellt sich hin und sagt: Hier ist ein kompliziertes Problem, dank der EU haben wir es ein bisschen verbessert, auch wenn es noch nicht perfekt ist. Damit verkauft man keine Zeitungen. Marine Le Pen wird mit 20 Prozentpunkten Abstand verlieren.

Das werden wir dann sehen.

Die Extremisten in Europa gewinnen nur unwichtige Wahlen. Weiß irgendjemand, was der österreichische Präsident überhaupt macht? Da können auch komische Typen gewählt werden. Dasselbe gilt für das Europäische Parlament. Das ist der einzige Ort, wo (der britische EU-Kritiker) Nigel Farage jemals ein Mandat erhalten wird. Der Front National hat zwei Sitze in der französischen Nationalversammlung. Bei echten Wahlen werden die Verrückten einfach nicht gewählt.

Und der Euro, sehen Sie da eine Lösung? Diese Krise scheint nicht vergehen zu wollen.

Da bin ich weniger optimistisch. Eine Fiskalunion wird es nicht geben. Um den Druck auszugleichen, müsste Deutschland bereit sein, 15 bis 20 Prozent seiner Wirtschaftsleistung an andere Länder abzugeben. Das ist unmöglich. Man kann ein Pflaster darüber kleben, aber das Problem ist eigentlich unlösbar. Oder es gibt zwei Euros, oder einzelne Länder wie Griechenland, Italien gehen raus. Dabei fielen aber jeweils kurzfristig hohe Kosten an, um einen langfristigen Gewinn zu erzielen. Das ist für Politiker keine Option.

Welche Optionen gibt es also?

Nur zwei: Entweder zwingt eine Krise ein Land aus der Währungsunion. Italien wäre zu groß, um mit Transfers gerettet werden zu können. Oder es wird einfach weitergewurschtelt wie bisher. Das halte ich für das wahrscheinliche Szenario. Glücklich macht mich das nicht. Ein großer Teil der Kritik an der EU ist unangemessen. Aber beim Euro trifft sie zu.

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