Übergriffe in Köln:Über sexuelle Gewalt sprechen - ohne Rassismus

Hauptbahnhof Köln

Der Hauptbahnhof in Köln am Dienstagabend

(Foto: Thilo Schmülgen/dpa)

Diese Ausländer wieder, das war ja klar! Wo bleibt jetzt der Aufschrei? Dass die Diskussion über die Gewalt von Köln so läuft, ist fatal.

Analyse von Hannah Beitzer

Für manche ist nach den schweren sexuellen Übergriffen, die in der Silvesternacht in Köln passierten, alles ganz leicht. Wo bleibt denn jetzt der Aufschrei, fragen sie. Und dass man nun ja endlich einmal sagen dürfe, nein, sogar müsse: Es gibt eben doch ein Problem mit den Ausländern, den Muslimen, den Flüchtlingen. Denn alle Opfer haben die Angreifer von Köln als arabisch oder nordafrikanisch aussehend beschrieben. In sozialen Medien häufen sich derartige Kommentare, von Politikern, konservativen Publizisten, stinknormalen Nutzern, anonym und namentlich.

Es ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon seit einigen Monaten beobachten lässt. Menschen, die sich sonst nicht gerade offensiv für feministische Anliegen einsetzen, warnen angesichts der ins Land kommenden Flüchtlinge vor Rückschritten in der Gleichberechtigung der Frau, vor den Gefahren, die von Männern mit Migrationshintergrund ausgingen - erst recht, wenn sie muslimischen Glaubens seien.

Köln passt ins Bild

"Sie zeichnen ein idealisiertes Bild von Deutschland als Gesellschaft, in der es keinen Sexismus gibt", kommentiert die Journalistin Kübra Gümüşay dieses Vorgehen. "Stattdessen versuchen sie, den Sexismus in der eigenen Gesellschaft auf die neu Dazugekommenen zu projizieren, um damit zu suggerieren, dass das Problem importiert sei." Ein Ereignis wie das in Köln passt gut in dieses Bild. Es versichert diejenigen ihrer Ansichten, die denken: Die Flüchtlinge schon wieder, war ja klar. Dass die Täter noch gar nicht identifiziert, die genauen Abläufe unklar sind, spielt da keine Rolle.

Wenn Politikerinnen und Feministinnen darauf hinweisen, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen keineswegs erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise ein Problem ist, dass Vergewaltigungen zum Beispiel häufiger im privaten Umfeld als auf der Straße geschehen, wird ihnen das leicht als Verharmlosung der Ereignisse ausgelegt.

Ihnen werfen konservative Kommentatoren wie die Publizistin Birgit Kelle vor, mit zweierlei Maß zu messen: Wenn ein deutscher Mann nur einen kleinen Blick ins Dekolleté wage, sei das gleich sexuelle Belästigung. Über die Taten von Migranten schwiegen Feministinnen hingegen - weil sie nicht als Rassistinnen gelten wollten.

Dass gerade Kelle, die auf die Schilderung sexueller Übergriffe und Belästigung unter dem Hashtag #Aufschrei mit der Parole "Dann mach doch die Bluse zu" reagierte, nun einen neuen Aufschrei fordert - das macht viele Frauen wütend. Ebenso, wenn der männliche Politiker Jens Spahn ihnen erklärt, dass nun aber mal "wirklich" ein Aufschrei nötig sei. Anders als damals, als es doch nur um ein paar schmierige Sprüche gegangen sei.

Die Taten hat es gegeben

Doch dieser Widerspruch im Verhalten konservativer Kommentatoren ändert auch nichts daran, dass es die Taten von Köln gegeben hat, wie zahlreiche Opfer und Augenzeuginnen schildern. Ihnen zu glauben ist wichtig, gerade, weil es gewöhnlich für Frauen unheimlich schwer ist, Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe und Gewalt anzuzeigen.

Warum? Das beschreibt die Journalistin Margarete Stokowski in diesem Artikel zu der Twitter-Kampagne #whyisaidnothing: "Mal schwiegen sie aus Angst vor dem Täter, mal aus Unwissenheit, ob es sich wirklich um eine Straftat handelte, mal aus dem Bedürfnis, zu verdrängen, was passiert war, oder aus der Erwartung, nicht ernst genommen zu werden."

Welche Rolle spielt die Herkunft?

Stokowski beschreibt auch ein Phänomen, das sich nun ebenfalls in Köln beobachten lässt: Häufig braucht es erst eine Vielzahl von Opfern, bis diese wahrgenommen werden. Mädchen und Frauen, die sich noch in der Silvesternacht in Köln Hilfe suchend an Polizisten wandten, schrieben hinterher in sozialen Medien, von überforderten Beamten mit einem "Passt halt auf Eure Wertsachen auf" abgespeist worden zu sein. Noch in einer Pressemitteilung am Neujahrsmorgen schrieb die Polizei von einer verhältnismäßig ruhigen Nacht in Köln. Erst, als sich immer mehr Frauen über soziale Medien zu Wort meldeten, äußerten sich plötzlich Polizei und die Kölner Politik.

Ernst genommen wurden die Opfer also schließlich - aber hat das nicht vielleicht auch damit zu tun, dass die Täter offenbar einen Migrationshintergrund haben? Das fragt zum Beispiel die taz: "Was wäre anders gewesen, wenn es sich bei den Tätern nicht um 'nordafrikanische', sondern um urdeutsche Männer gehandelt hätte?" Die taz glaubt: Für die betroffenen Frauen nicht viel, für die Öffentlichkeit jedoch so einiges.

Was hat die Herkunft mit den Taten zu tun?

Andere verweisen auf Großveranstaltungen wie das Oktoberfest oder den Karneval, wo es auch seitens herkunftsdeutscher Männer in trauriger Regelmäßigkeit zu Übergriffen auf Frauen käme. Übergriffe, die ohne große öffentliche Empörung seit Jahren als lästige Begleiterscheinung hingenommen würden. Trinkt halt nicht so viel, Mädels, heiße es da oft. Von sexueller Gewalt hinter verschlossenen Türen, im privaten Umfeld ganz zu schweigen.

Die Diskussion über die Täter von Köln erinnert außerdem an den Umgang mit islamistischen Terroranschlägen: Welchen Einfluss haben ihre Religion und Herkunft auf derartige Taten? Die Antwort ist: Sie spielen eine Rolle, weil sie zur individuellen Biografie der Täter gehören - wer sie wie erzogen hat, wo und wie sie aufgewachsen sind, was sie erlebt haben, wie sie heute leben.

Automatisch zu Verbrechern machen diese Faktoren Menschen allerdings nicht. Sie dienen übrigens auch nicht als Entschuldigung für ihre Taten: Verbrecher müssen verfolgt und verurteilt werden, ganz gleich aus welchem Land sie sind, welcher Religion sie angehören oder was sie erlebt haben. Dass die Täter von Köln vermutlich im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden können, lässt diese Forderung jedoch im konkreten Fall wie blanken Hohn wirken.

Zusammenhang zwischen mangelnder Integration und Kriminalität

Und ja, es gibt einen Zusammenhang zwischen fehlender Integration und Kriminalität. Das zeigten bereits die Neukölln-Debatten vergangener Jahre. Dieser Zusammenhang ist gerade besonders wichtig, da so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, wie seit Jahrzehnten nicht - Menschen, deren Integration noch bevorsteht. Was Integration überhaupt bedeutet, dass sie keine reine Bringschuld der neuen Deutschen ist, ist schon wieder eine ganz andere Debatte.

Wer nun aber aus den Ereignissen in Köln schließt, "die Migranten" seien eine Gefahr, wer gar fordert, wegen der Gewalttaten den Zuzug von Flüchtlingen grundsätzlich zu beschränken, der verfällt in plumpen Rassismus. Denn er nimmt damit Menschen nicht-deutscher Herkunft für die Taten einzelner Männer in Haftung, die die Rechte von Frauen missachten. Ganzen Volksgruppen deswegen das Grundrecht auf Asyl abzusprechen, ist nicht nur rassistisch, sondern schlicht nicht vereinbar mit den europäischen Werten, auf die sich Kommentatoren aller politischen Richtungen so gern berufen.

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