Totgeglaubtes Frühchen aus Argentinien:Lebenszeichen aus der Leichenkammer

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Ihr Baby sei eine Totgeburt, sagen die Ärzte der Argentinierin Analía Boutet. Doch als die Mutter ihr Kind ein letztes Mal sehen will, im Leichenschauhaus des Krankenhauses, macht sie eine unfassbare Entdeckung: Ihre Tochter hat die Augen offen, Kopf und Hände bewegen sich. Einen Monat ist das Wunder von Resistencia nun her - und noch immer kämpft die kleine Luz Milagros um jeden Tag.

Peter Burghardt, Buenos Aires

Einen Monat ist das Wunder jetzt alt und ordentlich genährt. Ein Kilogramm wog Luz Milagros Verón zuletzt - als sie ihr erstes Kilo übertraf, da sollte das mit einer Torte gefeiert werden. So will es die Tradition in Resistencia im Norden Argentiniens. Im Schnitt nimmt der Säugling jeden Tag zwanzig Gramm zu, angesichts der Umstände ein sensationeller Wert.

Hat sich von den dramatischen Umständen ihrer ersten Lebensstunden gut erholt: Einen Monat ist die kleine Luz Milagros Verón mittlerweile alt. (Foto: N/A)

"Sie ist eine Löwin", sagt Analía Boutet, die Mutter. "Sie kämpft jeden Tag, um voran zu kommen. Sie sieht mich an, sie lacht." Sie gibt ihr im Krankenhaus die Brust, über einen Schlauch werden Rationen der Milch in den winzigen Mund geleitet. Bisher passt der doppelte Vorname, den ihr die Eltern gaben: Luz Milagros. Luz bedeutet Licht und Milagros Wunder.

Als die Argentinierin ihre Tochter am 3. April das erste Mal aufmerksam zu Gesicht bekam, da lag das Mädchen in einem Sarg. Nach nur 26 Wochen war das Kind zur Welt gebracht worden, kaum sechs Monate, viel zu früh. Die Ärzte des Hospitals Perrando hielten die Frühgeburt für eine Totgeburt und verlegten die vermeintliche Leiche in den Kühlraum. Medizinischer Pfusch, wobei Gynäkologen, Krankenschwester und Hebamme behaupten, es habe keine Lebenszeichen gegeben. Zwölf von 1000 Neugeborenen aus der ärmlichen Region Chaco überleben die ersten vier bis fünf Wochen nicht.

"Wieso bewegt sich mein Baby?"

"Die Ärztin hat das Baby immer behandelt, als ob es tot wäre", berichtete Analía Boutet. Sie habe es fast ohne Hilfe aus dem Leib pressen müssen, wie leblosen Ballast. "Nach 15 Minuten lag meine Tochter schon in einer geschlossenen Kiste." Sie selbst bekam nach der Entbindung ein Beruhigungsmittel und schlief.

Zwölf Stunden später wollte sie den Körper wenigstens sehen, ein erster und letzter Blick. Ihrem Mann hatte man die Bitte zunächst verweigert. Analía Boutet, 29, und Fabián Verón, 31, betraten also das Leichenzimmer am Ende eines düsteren Ganges. Die Kiste wurde geöffnet, ein Tuch umgeschlagen, gleich würden Papa und Mama von vier gesunden Kindern dem Tod ihres fünften Kindes ins Antlitz blicken. Aus dem Bauch ins Grab. Begrüßung und Abschied.

"Ich holte Luft und schaute, ohne zu wissen, was ich finden würde", erzählte Frau Boutet. Sie fand ein Gesicht mit offenen Augen. Der Kopf der Kleinen und die Hände bewegten sich. Wie reagiert jemand auf Leben, der Tod erwartet? Sie schrie der Aufseherin der Kühlkammer zu: "Wieso bewegt sich mein Baby?"

Raureif überzog die zarte Haut, sie war eiskalt. Aber Luz Milagros lebte, sie lebt bis heute. "Eine Halluzination", dachte Analía Boutet. "Ich trat einen Schritt zurück, fiel auf die Knie. Mein Mann hob mich auf."

Luz Milagros wurde zurück auf die Neugeborenstation getragen und versorgt. Schnell machte die Nachricht von der Auferstehung im Totenraum weltweit die Runde. "Ein Baby erwacht in Argentinien im Leichenschauhaus", schrieb eine Zeitung. Der Direktor des von Journalisten belagerten Hospitals Perrando entließ fünf Angestellte, die bei der Geburt dabei waren. Der Gouverneur bot der Familie Hilfe an. Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner rief bei Analía Boutet an, sie wolle Luz Milagros eines Tages kennenlernen.

Das Wunderkind ringt derweil im Brutkasten um jeden Morgen, bestaunt und umschwärmt. Es überstand unterdessen eine Infektion und einen Herzstillstand, wurde wiederbelebt und wird beatmet. Wie stark seine Gesundheit davon belastet wurde, ist indes unklar. Wenn alles gut geht, dann bleibt das Mirakel ein Mensch.

© SZ vom 27.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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