Sterbender in Bankfiliale:"Wir alle laufen Gefahr, nicht zu helfen"

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Das Foto der Polizei Essen zeigt Kunden, die im Vorraum einer Bankfiliale über einen hilflosen Mann hinwegsteigen. (Foto: Polizei Essen/dpa)

In Essen wird ein Sterbender in einer Bankfiliale einfach ignoriert: Ein Psychologe erklärt, warum Menschen immer wieder wegschauen anstatt zu helfen.

Interview von Anna Fischhaber

Ein hilfloser alter Mann liegt mitten im Vorraum einer Bankfiliale in Essen. Vier Kunden steigen über ihn hinweg, erst der fünfte ruft die Rettungskräfte. Der 82-Jährige stirbt später. Ist das der totale Verlust von Empathie? Die Polizei hat inzwischen vier Personen identifiziert, denen sie unterlassene Hilfeleistung vorwirft. Gerd Bohner, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Bielefeld, erklärt, warum solche Situationen immer wieder passieren.

Waren die Bankkunden, die den 82-Jährigen liegen gelassen haben, herzlos?

Gerd Bohner: Ich glaube nicht. So etwas passiert häufiger als wir denken. Wir neigen dann schnell dazu, den Menschen, die nicht geholfen haben, Böswilligkeit zu unterstellen. Meist ist unterlassene Hilfeleistung aber kein Charakterdefizit, sondern die Umgebung und die Situation tragen dazu bei.

Wie meinen Sie das?

Natürlich ist es möglich, dass die Bankkunden die Brisanz der Lage wirklich nicht erkannt haben. Experimente zeigen jedoch: Menschen haben oft schon ein Gefühl für die Situation, sind dann aber schnell mit Rechtfertigungen wie: "Ich dachte, es ist nicht so schlimm." Oder: "Der war doch nur betrunken." Und je mehr Zuschauer, je mehr Zeugen, es gibt, desto geringer ist die Chance, dass jemand hilft. Wenn jemand auf offener Straße zusammenbricht, denken viele: "Hier sind ja noch andere potenzielle Helfer." Oder im konkreten Fall in der Bankfiliale vielleicht: "Da kommt sicher gleich noch jemand, der besser Erste Hilfe leisten kann. Oder der sein Handy dabei hat. Der nicht unter Zeitdruck ist." In der Psychologie nennen wir das den Zuschauereffekt. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Experimenten dazu.

Können Sie das genauer erläutern?

Anfang der sechziger Jahre wurde eine Frau in New York ermordet, fast 40 Menschen beobachteten die Tat, aber niemand kam der jungen Frau zu Hilfe. Damals wurde viel über die Gleichgültigkeit der Großstadt gesprochen. Meine US-Kollegen Darley und Latané kamen zum Ergebnis, dass die Anzahl der scheinbar Anwesenden die entscheidende Rolle spielt. Sie haben damals eine Reihe von Experimenten durchgeführt. In einem Versuch simulierte jemand einen epileptischen Anfall. Die Studienteilnehmer halfen eher und schneller, wenn sie dachten, nur sie allein hätten den Anfall mitbekommen.

Die Großstadt hat also keinen Einfluss darauf, ob Menschen helfen?

Doch. Wenn jemand auf offener Straße im ländlichen Raum zusammenbricht, helfen die Menschen eher. Nicht, weil sie die besseren Menschen sind, sondern weil sie davon ausgehen müssen, dass nicht so bald der nächste Helfer kommt. Und weil sie in eine peinliche Lage kommen könnten, wenn sie nicht helfen: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie denjenigen, der Hilfe braucht, am nächsten Tag beim Arzt treffen, ist höher. Eine Großstadt ist viel anonymer.

Gerd Bohner ist Professor für Sozialpsychologie und experimentalpsychologische Genderforschung in Bielefeld. (Foto: privat)

Das klingt fast so, als fänden Sie es normal, dass die vier Bankkunden in Essen nicht geholfen haben.

Normal nicht, ich will hier nichts verharmlosen. Aber die Situation ist psychologisch erklärbar - wie so viele negative Verhaltensweisen. Oft haben diese eben mit dem sozialen Kontext und nicht mit Charakterschwäche zu tun. Natürlich ist das keine Rechtfertigung. Vor Gericht hat das keinen Bestand, das ist und bleibt unterlassene Hilfeleistung. Ich verstehe das eher als Appell: Wir alle laufen Gefahr, nicht zu helfen. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen.

Was heißt das konkret?

Ich war selbst einmal in einer solchen Situation. Vor meinen Augen ist auf einer belebten Kreuzung ein Mann von seinem Motorrad gefallen. Zahlreiche Autos sind einfach um ihn herum gefahren, angehalten hat niemand. Ich war zu Fuß und der Mann auf der Straße war für mich schwer erreichbar, aber zum Glück hatte ich gerade in einer Vorlesung über das Thema gesprochen. Ich wusste deshalb: Du musst jetzt Verantwortung übernehmen und helfen, es wird niemand anderes tun. Zum Glück war der Mann ansprechbar und kaum verletzt.

Was sollte man tun, wenn man selbst Hilfe braucht?

Solange man noch sprechen kann, sollte man um Hilfe rufen. Vor allem wenn viele Menschen anwesend sind, muss man sich einen direkt aussuchen und ansprechen. Also in etwa: "Sie da, in dem grauen Mantel, rufen Sie jetzt einen Rettungswagen!"

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