SZ-Adventskalender:Wo Obdachlose für Momente ein Zuhause finden

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Frater Prior Emmanuel Rotter mit einem seiner Gäste. (Foto: Robert Haas)

Im Haneberghaus von Sankt Bonifaz bekommen täglich bis zu 250 Menschen Essen und Kleidung, Kranke werden kostenlos behandelt. Und es kommen immer mehr Hilfesuchende.

Von Thomas Anlauf

Hinten im Eck döst ein Mann. Er ist so erschöpft, dass er beim Warten aufs Essen eingeschlafen ist. Die Kantine ist um kurz nach neun Uhr morgens voll, meist sind es Männer mit übernächtigten Augen, die sich von der bitteren Kälte der Nacht im Park aufwärmen. Bei einem heißen Kaffee oder einem Teller mit warmer Suppe, die Frauke Vineta Bülow mit einem Lächeln über die Glastheke schiebt. Es ist kein Sitzplatz mehr frei in dem Speisesaal, trotzdem ist es fast still. Kaum einer redet, die einen essen schweigend, andere starren vor sich hin oder schlafen. Was soll man auch reden? Alle, die im Speisesaal sitzen oder mit einer Tasse Kaffee auf dem Gang stehen, hat die pure Not hierher getrieben. In den Wartesaal der Armut.

Täglich kommen bis zu 250 Menschen in die Obdachlosenhilfe von St. Bonifaz. Sie erhalten dort kostenlos eine Suppe mit Brot, für die meisten ist es die einzige Mahlzeit am Tag. Ein Lächeln gibt es meist obendrein, wenn Frauke Vineta Bülow den bettelarmen Menschen dampfende Teller über den Glastresen reicht. Das Lächeln der Leiterin der Essensausgabe, eine Suppe, ein paar Stunden Wärme, bevor es wieder hinaus in die Kälte geht: für die Bedürftigen die einzigen Lichtblicke in der alltäglichen Trostlosigkeit.

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Frater Prior Emmanuel Rotter steht an diesem Dezembermorgen im Eingang zum Speisesaal und blickt besorgt eine ältere Frau an. "Was is' denn Eahna passiert", fragt er. "Operiert", sagt die humpelnde Frau und lächelt, dankbar für die Frage. Im Speisesaal ist es jetzt so voll, dass die Menschen mit ihren Kaffeetassen im Gang nach freien Sitzplätzen suchen. Der Prior schiebt eine hilflos blickende Frau behutsam zu einer Bank im Flur, lässt im Vorbeigehen seine Hand auf der Schulter eines Obdachlosen ruhen, der ihn freundlich grüßt.

Das Haneberghaus ist sozusagen die Erfindung von Frater Emmanuel, wie ihn hier die Menschen nennen. Als er sich vor mehr als einem Vierteljahrhundert für ein Leben im Kloster entschied, kam der heute 50-Jährige das erste Mal mit bitterer Armut in Berührung. An die Klosterpforte von Sankt Bonifaz kamen immer häufiger Menschen, die nichts zum Leben hatten. Damals beschloss der junge Frater, diesen Menschen zu helfen. Schon bald gab es eine feste Armenspeisung im Gästesaal des Klosters, seit 1995 behandelt eine Ärztin kostenlos Kranke, die keine Versicherung haben.

Längst gibt es im 2001 eingeweihten Haneberghaus auf dem Klostergelände eine große Praxis mit mehreren Ärzten. Irene Frey-Mann beugt sich über das Bein eines Patienten, es ist geschwollen und entzündet. Das komme häufiger vor, sagt die Ärztin. Die Beine schwellen vom langen Sitzen in der Kälte an, häufig schlafen die Obdachlosen auch im Sitzen. Durch die geschwollenen Beine verheilen selbst kleine Wunden nicht mehr richtig. "Die Herausforderung hier ist, dass man die Menschen so annimmt, wie sie sind", sagt Irene Frey-Mann. "Und sie sind so dankbar und freundlich."

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Für die Ärztin, die im Keller des Haneberghauses täglich bis zu 25 Patienten behandelt, "ist es ein besonderer Ort: Das ist ein ganz tolles Projekt - wo gibt es das sonst", sagt Irene Frey-Mann. In einigen Münchner Kliniken würden Patienten ohne Krankenversicherung leider oft nur gegen Vorauskasse behandelt, wenn überhaupt, sagt eine Sprechstundenhilfe der Obdachlosenpraxis.

Das Haneberghaus der Benediktiner ist tatsächlich eine einzigartige Einrichtung in München. In dem Bau an der Karlstraße erhalten die Bedürftigen nicht nur Essen und medizinische Versorgung, es gibt acht große Duschen, und nebenan auch eine Kleiderkammer. "Heute geht's zu bei uns", sagt Schwester Dolore. Gemeinsam mit einer jungen Frau steht sie in einem verwinkelten Raum, in dem sich bis unter die Decke Pullover, Hemden, Hosen und Schuhe stapeln. Schwester Dolore ist eigentlich Hotelfachfrau, aber wie so viele der Helfer im Haneberghaus ist sie erfüllt von ihrer sozialen Arbeit.

Denn die zwölf Hauptamtlichen und 20 Ehrenamtlichen im Haneberghaus erleben täglich, wie dringend nötig das Hilfsangebot in München ist. "Als ich 1991 mit der Arbeit anfing, waren es 30 bis 40 Menschen, die täglich kamen", sagt Frater Emmanuel. Heute seien es 200 bis 250 Menschen. "Sie sind unsere Gäste", darauf legt der Prior Wert. Er schätzt, dass etwa 800 Menschen in München auf der Straße leben, das Sozialreferat glaubt, es sind etwa 600. Viel zu viele auf jeden Fall, findet Frater Emmanuel. Am liebsten wäre ihm, wenn er seine Obdachlosenhilfe schließen könnte, weil sie nicht mehr benötigt würde, doch er weiß: "Das wird ein Wunsch bleiben."

Seit der EU-Erweiterung ist die Zahl der Hilfesuchenden im Haneberghaus noch einmal deutlich angestiegen. Im Hof vor dem Gebäude ist an diesem Dezembermorgen Rumänisch die vorherrschende Sprache. Die Menschen kommen in der Hoffnung auf Arbeit nach München und müssen, wenn sie überhaupt einen Gelegenheitsjob finden, meist illegal für Hungerlöhne schuften - gerade in Branchen wie dem Bau oder der Hotellerie. Mittlerweile sind drei von vier Hilfesuchenden im Haneberghaus europäische Migranten.

Es ist der Reichtum der Stadt, der die Armut anzieht, so paradox das klingt. Wo Luxuswohnungen entstehen, schuften auf den Baustellen immer wieder miserabel bezahlte Hilfsarbeiter aus Bosnien, Rumänien und Bulgarien. Frater Emmanuel versteht natürlich, dass die Menschen trotzdem kommen: Ein paar Euro in Deutschland zu verdienen ist mehr als nichts in der Heimat, wo es keine Jobs gibt.

Rund um Weihnachten ist die Stimmung im Haneberghaus besonders gedrückt. Die Männer sitzen schweigend herum. Die einen haben kein Geld, um sich etwas Gutes zu gönnen, die anderen keines, um zu ihren Verwandten in die Heimat zu fahren. Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit beherrscht in diesen Tagen die Menschen, die zur Obdachlosenhilfe kommen. Am ersten Weihnachtsfeiertag hat es dafür etwas ganz Besonderes für die Gäste gegeben: Wildgulasch mit Spätzle. Und dazu ein Lächeln aus der Küche.

© SZ vom 28.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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