Wahlkampf:Das sind die "hart arbeitenden Menschen", die Martin Schulz erreichen will

Wahlkampf: Hart arbeitende Menschen in Deutschland: Simone Hinneberg, Frank Külper und Robin Berz.

Hart arbeitende Menschen in Deutschland: Simone Hinneberg, Frank Külper und Robin Berz.

(Foto: Inga Kjer/photothek, Oliver Klaasen (2))

In fast jeder Rede werden sie vom SPD-Kanzlerkandidaten umworben. Doch wer sind diese Menschen eigentlich? Was bewegt sie? Und schafft es Schulz, sie wieder für seine Partei zu gewinnen? Beobachtungen aus den letzten Wochen des Wahlkampfes.

Reportage von Oliver Klasen

Die "hart arbeitenden Menschen" nehmen im Wahlkampf von Martin Schulz breiten Raum ein, doch einer der am härtesten arbeitenden Menschen in diesen Tagen ist: er selbst. 60 Termine in fast jeder größeren Stadt in Deutschland, dazu etliche Fernsehauftritte. Zum Beispiel ein Montag Anfang September. Es ist der Tag nach dem TV-Duell mit Angela Merkel, das Schulz nach Meinung vieler Beobachter versemmelt hat - versemmelt jedenfalls gemessen an den hohen Erwartungen, die die SPD hatte.

Schulz redet, Schulz rudert, Schulz rackert. Schon nach zehn Minuten muss der Kanzlerkandidat das Jackett ausziehen und die Ärmel hochkrempeln. Es ist heiß, sein Hemd wird später nach Brathendl riechen. Er kann nur wenige Stunden geschlafen haben. Egal jetzt, weitermachen, Daumen hoch, in die Menge winken, Gewinnerlächeln.

Schulz ist zu Gast auf dem Gillamoos-Volksfest in Abensberg, wo traditionell Vertreter aller großen Parteien auftreten - in Bayern kombinieren sie Politik gerne mit Bier. Der hemdsärmelige Schulz tut also das, wozu er am Abend vorher im Fernsehen keine Gelegenheit bekam: potenzielle SPD-Wähler ansprechen. Er findet zurück zu den Anfängen seines Wahlkampfes. Zu der Zeit, als die SPD in den Umfragen auf mehr als 30 Prozent zulegte und alle vom Schulz-Effekt sprachen. Damals kamen die "hart arbeitenden Menschen", die Schulz in rheinischem Dialekt manchmal auch als "hacht arbeitende Menschen" ausspricht, in fast jeder seiner Reden vor.

Wahlkampf: Kann besser Bierzelt als TV-Duell: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

Kann besser Bierzelt als TV-Duell: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

(Foto: AFP)

Zum Beispiel Simone Hinnenberg, 35, Altenpflegerin in der "Villa Finow", einem Seniorenheim im brandenburgischen Eberswalde. Fünf Minuten mit ihr genügen, um sicher zu sein, dass sie eine derjenigen ist, die Schulz meint. 6:55 Uhr, Zimmer 1, Frau Paulsen. Für sie steht am Nachmittag gemeinsam mit anderen Bewohnern ein Ausflug zu einem nahegelegenen Reiterhof an. Damit sie den ausgeruht antreten kann und ihre Kräfte schont, pflegt Hinnenberg sie heute im Bett und nicht im Bad. Gesicht waschen, dann Hände, Oberkörper, Füße, Beine und den Intimbereich, anschließend kämmen und eincremen. Frische Kleidung anziehen, Unterwäsche im Kleiderschrank rechts im kleinen Fach, T-Shirt links, Hose oben. Ist noch genug Inkontinenzmaterial - Hinnenberg sagt "IKM-Material" - im Sideboard? Ja, ist noch da. "Holen Sie mich nachher ab zum Frühstück?" - "Klar, wie immer".

7.12 Uhr, nächstes Zimmer, Herr Franke. Er sitzt schon auf der Toilette, etwas zitternd und verwirrt, überall Blut, wahrscheinlich die Hämorrhoiden, aber das muss später ein Arzt abklären. Vorsichtig zurück in den Krankenstuhl. Reinigung mit Trockentüchern, Feuchttüchern, grob auch die Toilettenschüssel und den Boden davor sauber machen, die Reinigungskräfte gehen später gründlich durch. Hände desinfizieren, neue Gummihandschuhe. Dann das Plaster gegen das Wundliegen am Rücken erneuern. Anziehen, Rollstuhl an den Wohnzimmertisch schieben.

Hinnenberg wird von ihren Kollegen "Flitzi" genannt, weil sie so schnell über die Gänge läuft. 35 Personen haben sie und ihre vier Frühschichtkollegen zu versorgen. In der Spätschicht sind sie zu viert, nachts zu zweit, jedenfalls, wenn sich niemand krank meldet oder Urlaub hat. Der Personalschlüssel habe sich in den vergangenen Jahren mit den Pflegereformen leicht gebessert, sagt Angela Matthes, die Leiterin der Einrichtung. "Es gibt Altenpfleger, außerdem Betreuungspersonal, Ergo- und Physiotherapie, aber ein Tropfen auf den heißen Stein ist es trotzdem." Manchmal bräuchten die alten Menschen einfach jemanden, der zuhört, wenn sie von früher erzählen. "Wir versuchen, das möglich zu machen, aber wie alle, die in der Pflege arbeiten, machen wir da eine Grätsche", sagt Matthes.

7:35 Uhr, drittes Zimmer, Herr Seeber. Er ist Spastiker und die meiste Zeit bettlägerig, spricht einen eisenharten brandenburgischen Dialekt, aber wenn er einen Witz macht, und das macht er oft, gluckst seine Stimme ein bisschen. "Kiekste ma nach der Fernbedienung?". "Ist hier auf dem Regal". Rasieren, Gesicht waschen, eincremen, zur Seite drehen, Rücken waschen, neues IKM-Material auflegen, zurückdrehen. Seeber macht immer gut mit bei der Grundpflege, sagt Hinnenberg, nur das Zähneputzen hasst er.

Sie achten darauf, dass die alten Menschen, die hier leben, sich etwas Eigenständigkeit bewahren, ein Stück Autonomie über den eigenen Tagesablauf. Deshalb wecken sie diejenigen, die ihr ganzes Leben lang Spätaufsteher waren, möglichst erst nach 8 Uhr. Deshalb darf jeder, zusätzlich zur Standardausstattung aus Krankenbett, Schrank und Tisch, eigene Möbel, Bilder, Dekozeug und Erinnerungen mitbringen. Deshalb sagen sie Bewohner, nicht Patienten. Und deshalb ist es okay, wenn Betty, der Hund der Pflegedienstleiterin, auf den Gängen und manchmal auch in den Zimmern umhertapst. "Ist ja ein Zuhause hier, kein Krankenhaus", sagt sie.

Altenpflegeheim

Altenpflegerin Simone Hinnenberg versorgt einen Patienten.

(Foto: Inga Kjer/photothek.net)

Irgendwann in der Mitte von Schulz' Rede kommt immer der Altenpfleger aus Viersen. Der habe ihm erzählt, "dass sein Job etwas für Melancholiker sei", sagt Schulz im Gillamoos-Bierzelt, denn am Ende jedes Arbeitstages komme er stets mit dem Gefühl nach Hause, nie genug getan zu haben. In früheren Reden war es auch mal der Altenpfleger aus Moers, liegt beides am Niederrhein, nur 35 Kilometer auseinander, also nicht so wichtig.

Der Altenpfleger aus Viersen ist für Schulz das, was für Angela Merkel einst die schwäbische Hausfrau war, an deren Beispiel sie ihre knauserige Haushaltspolitik erklären wollte: etliche Seiten Parteiprogramm in einem einzigen Bild, eine rhetorische Schablone, die sich gefahrlos immer wieder bringen lässt. Wer hört sich schon mehrere Schulzreden hintereinander an?

Die Tradition des Malochertums

Der Altenpfleger aus Viersen könnte ebenso gut Krankenschwester sein oder Erzieherin. Schulz erwähnt bei seinen Auftritten manchmal auch Installateure oder Eisenbahnschaffner. Arbeitnehmer, die eher nicht im Büro sitzen. Die ranklotzen und die Ärmel hochkrempeln müssen, so wie er im Bierzelt.

Mit den "hart arbeitenden Menschen" hat er eine griffige Formel gefunden. "Die hat aber keine beschreibende, sondern eine politisch mobilisierende Funktion", erklärt Sighard Neckel, Soziologieprofessor an der Universität Hamburg. "Auch gut verdienende Freiberufler, Fachärzte oder Finanzmanager sehen sich - subjektiv völlig zu recht - als hart arbeitende Menschen. Die will Schulz nicht in erster Linie ansprechen. Er will eine Identifikation auslösen bei denjenigen, bei denen die Tradition der körperlich belastenden Arbeit, des Malochertums noch eine gewisse Rolle spielt", sagt Neckel.

"Hömma" und "samma" sind die meistgesagten Wörter

Die Baustelle liegt an der Autobahn A 1 zwischen Münster und Osnabrück, aber die Männer - Frauen gibt es hier keine - kommen alle aus dem Ruhrgebiet. Firma Heitkamp, ein mittelständisches Bauunternehmen mit 350 Angestellten, Hauptsitz Wanne-Eickel. "Hömma" und "samma" sind deshalb die meistgesagten Wörter. Wohl nirgendwo sonst in Deutschland ist das, was der Professor Malochertum nennt, noch so tief in der Alltagskultur verankert wie zwischen Duisburg und Dortmund. Viele kennen den Film "Was nicht passt, wird passend gemacht" von 2001 über eine Chaotentruppe von Bauarbeitern, die den Betonmischer als Bierkühler missbrauchen. "Alles nur Klischees", sagt Robin Berz, "dass auf dem Bau gesoffen wird, gibt es seit 20 oder 30 Jahren nicht mehr. Wenn du 'n Spriti bist, kannste den Job nicht machen."

Berz, 28, Warnweste, üppiger Vollbart, blondierte Haarspitzen, großflächig tätowierter Oberarm, ist hier die "rechte Hand des Poliers", wie er sagt. Das bedeutet auch, dass er überall mit anpacken muss, wenn mal Leute fehlen. Heute hilft Berz bei der "Schwarzkolonne", die nichts mit Schwarzarbeit zu tun hat, sondern an diesem Tag einen etwa 500 Meter langen Autobahnabschnitt zu asphaltieren hat.

Zehn Lkw fahren ständig zwischen dem Asphaltmischwerk in Münster und der Baustelle hin und her. Stecken sie im Verkehr fest, verzögern sich die Arbeiten. Normalerweise arbeiten sie bei Heitkamp jeden Tag von 7 bis 17 Uhr, Samstag nach Bedarf zusätzlich. Sie bauen Überstunden auf, die sie in der Winterzeit wieder abbauen können. "Nur die Schwarzkolonne weiß nie so genau, wann sie nach Hause kommt", erklärt Berz. Weil Asphalt immer sofort verarbeitet werden muss, arbeitet sie, bis sämtliches angeliefertes Material aufgebraucht ist.

Langsam bewegt sich die riesige Maschine, der sogenannte Fertiger, über die Fahrbahn und verteilt das 160 Grad heiße, dampfende Asphaltgemisch, das unten an den Seiten herausquillt. Aber an die Ränder, dort wo die Regenabläufe sind, kommt der Fertiger nicht richtig hin. "Die Schippe muss glühen", so kommentiert es einer von Robin Berz' Kollegen, als er die klebrig-schwere Masse in die Lücken schaufelt.

Neubau der Talbrücke Exterheide, Fahrbahnerneuerung, Verbreiterung auf sechs Fahrstreifen, das ist das Projekt, an dem die Firma Heitkamp an der A 1 arbeitet. 2019 soll es fertig werden. Jetzt ist Halbzeit. Im Container des Poliers hängen die Baupläne. Mehrere Meter lange, weiße Papierbögen mit Hunderten von Abmessungsangaben. Nebenan sitzen die Arbeiter bei der Mittagspause. Während die anderen Tupperdosen mit geschmierten Broten mitgebracht haben, wickelt Robin Berz ein Brötchen aus der Tüte eines Tankstellenbistros. War nicht viel Zeit heute Morgen, er und seine Freundin sind gerade Eltern eines kleinen Sohnes geworden.

Wer auf dem Bau arbeitet, muss bereit sein, sich auf lange Projekte einzulassen. Monatelang, manchmal jahrelang die gleiche Baustelle, der gleiche muffige Container, Instantbrühe mit Kaffeeweißer, Staub, Dreck, Schlamm, Hitze, Kälte. Und, besonders, wenn man Anfänger ist, ein zuweilen ruppiger Umgang und derbe Sprüche. "Deshalb sagen alle: Nie in der Kolonne bleiben, in der man seine Lehre gemacht hat. Da bleibt man immer der Kleine", erklärt Berz. In ein paar Wochen, so ist es geplant, wird er von der Autobahn abgezogen. Die Firma hat einen Großauftrag bekommen und soll die Landebahn am Flughafen Köln/Bonn sanieren.

Wahlkampf: Robin Berz bei der Arbeit.

Robin Berz bei der Arbeit.

(Foto: Oliver Klasen)

An der SPD-Basis ahnt man, dass sich viele hart arbeitende Menschen in den vergangenen Jahren von der Partei entfernt haben und es für Schulz schwer werden wird, sie zurückzuholen. Eindrücke aus dem Bezirk Hessen-Süd, traditionell eher links, hier versuchte eine gewisse Andrea Ypsilanti vor fast zehn Jahren vergeblich, die erste rot-rot-grüne Landesregierung zu bilden. Zwei Stammtische mit einfachen SPD-Mitgliedern in Darmstadt und Offenbach. Bei Kaffee, Bier und Äbbelwoi diskutieren sie, was die in Berlin besser machen könnten. Es fallen nachdenkliche Sätze und auch solche mit viel Selbstkritik. "Das komplette Sozialwesen wurde vernachlässigt und nicht richtig gewürdigt. Das ist eigentlich eine Unverschämtheit in einem so wohlhabenden Staat wie Deutschland", sagt Marcus Schenk, früher SPD-Ortschef in Offenbach. Tobias Reis, Lehrer und SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Darmstadt-Mitte betont, dass sich die SPD im Gegensatz zu früher mehr anstrengen muss. "Pauschal zu behaupten, wir unterstützen die Arbeiterklasse, das ist vorbei. Jetzt müssen wir dem Polizisten konkret sagen, wie viele neue Kollegen wir einstellen."

Hartz-IV-Gesetze, die Glaubwürdigkeit verspielt haben. Eine Kanzlerin, die sich in der politischen Mitte breitmacht. Mangelnde Machtoptionen jenseits der großen Koalition. Als seien das nicht schon genug Probleme für die Sozialdemokraten, kommt auch noch eine verunsicherte Klientel hinzu. Gerade die untere Mittelschicht hat das Gefühl, getrieben zu sein von den Verhältnissen, wenig tun zu können gegen Lohndumping und Leiharbeit. Sie spürt, dass sie einen schleichenden Bedeutungsverlust erfahren hat, den Gewerkschaften und SPD nicht rückgängig machen können. "Denken Sie an das alte Arbeiterlied", sagt Soziologie-Professor Neckel. "'Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.' Dieser starke Arm ist nicht mehr da."

Wahlkampf: Beraten, was die in Berlin besser machen können: SPD-Mitglieder in Offenbach.

Beraten, was die in Berlin besser machen können: SPD-Mitglieder in Offenbach.

(Foto: Oliver Klasen)

Schulz gilt als guter Redner, als einer, der ähnlich wie damals Schröder, auch durch seine Herkunft gut mit den einfachen Leuten kann. Auf Feuerwehrfesten Hände schütteln und Currywurst essen, das liegt ihm. Das ist ja ohnehin ein gutes Symbol, um sich mit hart arbeitenden Menschen zu verbrüdern. "Kommste vonne Schicht, wat gibbet Schöneres als wie Currywurst", sang Herbert Grönemeyer einst und füllte damit Stadien.

"Die SPD muss immer einen Spagat machen"

Man fragt also an, in der SPD-Pressestelle in Berlin, wann Schulz auf Wahlkampftour gehe, welche Auftritte wann und in welcher Stadt geplant seien. Anfang Juli heißt es: gibt noch keine Termine. Zweiter Anruf, zwei Wochen später: Das Programm werde derzeit ausgearbeitet und bald auf die Website gestellt. Dort finden sich in den Tagen danach: keine Wahlkampfauftritte. Schulz besucht Emmanuel Macron in Paris, er reist nach Rom zum italienischen Ministerpräsidenten, aber auf den Marktplätzen von Bottrop bis Bautzen ist er nicht zu sehen. Dann eine Pressekonferenz, auf der der Beginn der Marktplatzreden für den 21. August angekündigt wird, vier Wochen vor der Wahl. Manche sagen, das war zu spät. Manche sagen, Schulz sei in den Monaten vor der Wahl abgetaucht, zu wenig präsent gewesen in der Öffentlichkeit, man habe nicht gewusst, was er konkret als Kanzler plane. Dann gingen gleich drei Landtagswahlen für die SPD verloren, in NRW, Schleswig-Holstein und im Saarland. Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der Zeit, empfahl Schulz in der Sendung von Anne Will, das Gerechtigkeitsthema kleiner zu halten und sich mehr in die politische Mitte zu orientieren.

Eine Analyse, die Soziologieprofessor Neckel nur teilweise unterstützt. Lasse die SPD die Arbeiterschaft komplett außer Acht, drohe ihr das gleiche Schicksal wie den französischen Sozialisten, die zu einer Zehn-Prozent-Partei geschrumpft seien und nurmehr "liberale Großstadtstimmen" auf sich vereinigen könnten. "Die SPD muss immer einen Spagat machen. Sie muss ein Bündnis bilden zwischen den sogenannten kleinen Leuten und den progressiven Mittelschichten, die ein solidarisches Gefühl mit den unteren Schichten entwickeln und sich von der SPD Reformgeist und Aufbruchstimmung erhoffen", sagt Neckel.

Aber welches große Thema hätte die SPD gehabt, um Aufbruchstimmung zu erzeugen?

Wie ein Unternehmensberater, aber mit einem Bruchteil des Gehalts

Frank Külper, 54, ist seit einigen Monaten Partner in einem Hamburger Architektenbüro. 55 bis 60 Stunden pro Woche kommen zusammen, oft ist nur ein Tag am Wochenende frei. Martin Schulz würde von ihm als einem hart arbeitenden Menschen sprechen und möglicherweise ist er Teil jener progressiven Mittelschicht, die der Soziologieprofessor erwähnt hat. Das Büro liegt in einer Villa an der vornehmen Elbchaussee. Ein großer, nur mit Glasscheiben abgeteilter Raum im Souterrain, draußen ein Garten mit Teich, drinnen Sideboards aus schwarzen Spanplatten, jede Menge Aktenordner und Projektmappen, freigelegte Betonsäulen, an der Decke in der Besprechungsecke eine Art Kronleuchter aus großen Schreibtischklemmlampen.

Wer um neun Uhr kommt, sieht, dass die Mitarbeiter bereits an ihren Schreibtischen sitzen und es wirkt nicht so, als seien sie gerade erst gekommen. Trotzdem ist dieser Dienstag im August eigentlich ein schlechter Tag, um harte Arbeit zu begutachten. "So selten, wie das Telefon klingelt, merkt man, dass halb Hamburg noch in den Ferien ist", sagt Janine Rose, die seit acht Jahren im Büro arbeitet und derzeit mit der Planung eines großen Wohnkomplexes beschäftigt ist.

Ein Großteil der Bauprojekte, mit denen Külper derzeit beschäftigt ist, sind Schulen. Sein Büro ist für die Projektsteuerung zuständig, das heißt, er ist Bauherr, muss das Projekt von Anfang bis Ende begleiten, ist Vermittler zwischen der Schulbaubehörde, den Schulleitern, dem planenden Architekten und den beteiligten Baufirmen. 37 Arbeiten an zehn unterschiedlichen Standorten laufen gerade.

Külper fährt an diesem Tag mehrere der Baustellen ab, um zu prüfen, wie die Arbeiten vorangehen. Er tritt über provisorische Rampen, geht durch staubige Treppenaufgänge, steigt über Fräsmaschinen und Farbeimer. Manchmal nickt er und scheint zufrieden, manchmal guckt er kritisch. Zwischendurch Currywurstpommes in der Eppendorfer Grillstation, dort, wo die Serie "Dittsche" gedreht wurde, in der ein Arbeitsloser im Bademantel mit dem Wirt über das Leben philosophiert. Am Nachmittag dann Begehungstermin in einer neu gebauten Grundschule. Innen riecht es nach Holz und Lack, Arbeiter bringen im ersten Stock gerade die Kleiderhaken für die Schüler an. Ein Laie würde vermuten, dass hier fast alles fertig ist. Doch die Dame von der Schulbaubehörde ist nicht zufrieden, löchert den Bauleiter mit Fragen und moniert, dass die Silikonfugen auf den Treppenaufgängen nicht korrekt verarbeitet seien.

"Im Moment sind wir extrem im Termindruck und im Kampf mit den beteiligten Baufirmen", sagt Külper. Fachkräftemangel sei ein großes Problem in der Branche. Es komme häufig vor, das Arbeiter einfach nicht auf der Baustelle erscheinen, weil ihr Chef sie spontan bei lukrativeren Aufträgen einsetze. Auch das Architektenbüro hat Personalnot. 15 Leute sind sie, Külper und Martin Reichardt, der Gründer des Büros, würden gerne wachsen. Im Haus neben dem jetzigen Firmensitz haben sie vor einigen Monaten eine ganze Etage angemietet, aber sie steht leer, weil geeignete Bewerber fehlen.

Der Architekturberuf gilt als anstrengend. Schon das Studium ist fordernd, anschließend arbeiten viele Absolventen einige Jahre in einem der großen Büros, um sich einen Namen zu machen. Wenn bei Wettbewerben Abgabetermine anstehen, wird auch spätabends und am Wochenende gearbeitet. Ein Leben wie ein Unternehmensberater, aber mit einem Bruchteil des Gehalts.

Külper hat sich auf die gleiche Weise hochgearbeitet. Aufgewachsen in Cuxhaven, studiert an der für Architekten bekannten TU Braunschweig. "Da lernt man dann bei einem dieser Entwurfsgötter. Meiner hieß Meinhard von Gerkan." Von Gerkan hat den Berliner Hauptbahnhof entworfen und den Flughafen Tegel, der jetzt womöglich länger offen bleiben soll, wenn die Berliner Bürger sich am kommenden Wochenende dafür entscheiden.

Wahlkampf: Prüfende Blicke: Architekt Frank Külper bei der Besichtigung einer seiner Baustellen.

Prüfende Blicke: Architekt Frank Külper bei der Besichtigung einer seiner Baustellen.

(Foto: Oliver Klasen)

Martin Schulz hat nicht auf Giovanni di Lorenzo gehört. In den letzten Wochen seines Wahlkampfes hat er fast noch mehr über Gerechtigkeit gesprochen als vorher. Die Formulierung, die er so gerne verwendet, haben auch Bill Clinton und Barack Obama oft gebraucht. "Hard working people who play by the rules", hart arbeitende Menschen, die sich an die Regeln halten, hieß es in mehreren Reden der beiden US-Präsidenten. Beide, Clinton und Obama, haben zweimal eine Wahl gewonnen, vielleicht hat das Schulz bestärkt.

Der Kandidat hat Zuspruch bekommen. "Schulz kann besser Bierzelt als TV-Duell" hieß es nach dem Gillamoos-Auftritt. Wer den SPD-Mann in der Wahlarena gesehen hat, einer Sendung, in der Bürger dem Kandidaten Fragen stellen können, fragte sich, warum Schulz das nicht schon seit Wochen auf sämtlichen Marktplätzen der Republik macht. Es ist das, was er am besten kann. Den Kümmerer geben, klare Sprache sprechen, nah am Menschen sein. Da stört es nicht mal, dass auf Twitter ein paar hämische Kommentare kamen, weil Schulz die ganze Zeit im Studio umherlief und sich zu irgendwem an die Seite setzte.

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Ist jetzt die Zeit für Martin Schulz? Viele Experten glauben nicht dran, dass der SPD-Kandidat die Bundestagswahl noch gewinnen kann.

(Foto: imago/ZUMA Press)

Es ist schon halb elf am Vormittag, bis Simone Hinnenberg zum ersten Mal "ne Fuffzehn" machen kann. Zimmer 15 gibt es nicht in dem Seniorenpflegeheim, es ist das Codewort unter den Mitarbeitern, wenn es heißt, dass sie kurz eine Zigarette rauchen gehen. Hinnenberg, gebürtig aus Dortmund, was man aber nicht mehr hört, ist als Elfjährige mit ihrer Mutter in den Osten gezogen. Ausbildung als Verkäuferin an einer Tankstelle, fünf Jahre selbständig als Garten- und Landschaftsbauerin, dann 2005 in Dresden der erste Job in der Pflege, als "völlige Quereinsteigerin", wie sie sagt. Sie hatte viele Alkoholkranke zu betreuen damals, war in den Nachtschichten oft auf sich allein gestellt und doch wusste sie: Das war genau der Beruf, den sie immer wollte.

"Wenn Bekannte von außen auf meinen Job gucken, dann sehen sie Schichtarbeiten, Sonntagsarbeiten, schlechte Arbeitsbedingungen. Sie sehen nicht die schönen Dinge, die ich zurückbekomme von den alten Menschen. Die sehe nur ich", sagt die Altenpflegerin. Vor vier Jahren ist sie hierher gewechselt, "der Liebe wegen", wie sie erklärt, "sonst würde man nicht nach Eberswalde ziehen". Verliebt hat sie sich auch in ihren jetzigen Arbeitsplatz. Sie mag die kleine Villa, die familiäre Atmosphäre. Sie haben Aufenthaltsräume, Bad und Fernseher auf jedem Zimmer, eine gute Ausstattung, aber kein Luxus, im Unterschied zu den meist teureren Seniorenresidenzen. "Aber ich arbeite lieber mit Menschen, die nicht so viel haben. Da fühle ich mich wohler", sagt Hinnenberg.

Was machen Altenpfleger? - "Satt, sauber, trocken"

Ihr gefällt, dass sie jederzeit auf ihre Kollegen zählen kann und sich hier niemand an Äußerlichkeiten stört. "Meine Arme sind ja mehr so Bilderbuch", sagt sie und deutet auf ihre Tattoos. Und, immer noch gerührt, erinnert sie sich an einen Moment, als eine Bewohnerin starb und alle Mitarbeiter, selbst die, die Urlaub hatten, herkamen, um sich zu verabschieden.

Wenn Schulz die Leistung der hart arbeitenden Menschen betone, dann impliziere das, dass "diese Menschen für ihre harte Arbeit nicht ausreichend entgolten werden", sagt Soziologieprofessor Neckel. Doch wer mit Simone Hinnenberg spricht, erkennt, dass Entgelt für sie mehr als Geld bedeutet. Sie erwähnt zwar, dass die Gehälter in Berlin etwas höher sind als in Brandenburg. Ein bisschen ärgert es sie auch, dass Krankenpfleger manchmal herabsehen auf die Beschäftigten in der Altenpflege: "Die sagen dann, was macht ihr denn schon? Satt, sauber, trocken." Aber danach gefragt, was sie sich wünscht, sagt sie: "Dass man die älteren Menschen mehr wertschätzt. Das sind die, die ihr ganzes Leben gearbeitet und die, die unser Land aufgebaut haben."

Es ist kalt auf dem Münchner Marienplatz, als Martin Schulz zu seiner Rede ansetzt. Die Temperatur liegt nur sehr knapp im zweistelligen Bereich, immerhin: So weit nach unten fallen wird der Prozentanteil der SPD bei der Wahl am Sonntag selbst nach den pessimistischsten Prognosen nicht. Aber gerade ist eine Umfrage herausgekommen, die die SPD nur noch bei 20 Prozent sieht. Schulz redet, Schulz rudert, Schulz rackert. Kein Altenpfleger aus Viersen diesmal, aber 30 Minuten über Gerechtigkeit. Wieder ist es ein guter Auftritt. Aber kaum jemand glaubt noch, dass er es schaffen kann.

Die Altenpflegerin, der Straßenbauer und der Architekt, sie finden sich wieder in Schulz Formulierung. "Hart arbeitende Menschen" ist eine Klammer, die große Teile der Gesellschaft zusammenhält. Aber je länger der Wahlkampf geht, desto mehr wird deutlich, wie sehr Schulz sich dafür anstrengen muss. Simone Hinnenberg, Robin Berz und Frank Külper, sie beziehen Gehalt, sie bekommen Anerkennung, sie finden Erfüllung. Sie arbeiten. Von Schulz könnte es dagegen am Ende heißen: Er hat sich abgearbeitet.

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