Youtube-Projekt: "Life in a Day":Verherrlichung des Banalen

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Was passiert, wenn Google Youtube-Nutzer dazu aufruft, ihr Leben an einem bestimmten Tag zu filmen? 80 000 Nutzer sandten 4600 Stunden Videomaterial ein. Herausgekommen ist ein Film nach dem Wiki-Prinzip, der sich nicht ganz auf die "Do it yourself"-Ästhetik der User verlässt. An diesem Sonntag jährt sich das Projekt.

Andrian Kreye

Am kommenden Sonntag jährt sich der Tag, an dem der erste Film nach dem sogenannten Wiki-Prinzip gedreht wurde. Das heißt, dass sehr viele Leute, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, gemeinsam über das Internet an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. In diesem Falle an dem Film "Life in a Day", den der Internetkonzern Google gemeinsam mit den Regiestars Ridley und Tony Scott produziert hat. Das ist formal ein Novum, auch wenn sich bei einem Film, den ein Konzern wie Google produziert, natürlich die Frage nach dem ideologischen Subtext stellt.

Zur Produktion von "Life in a Day" stand Regisseur Kevin MacDonald Material in einer Länge von 4600 Stunden zur Verfügung. (Foto: Rapid Eye Movies)

Zunächst aber war der 24. Juli eine gute Wahl für ein solches Vorhaben, denn bisher spielte das Datum in der Geschichtsschreibung nur eine untergeordnete Rolle - 1411 bekämpften sich an diesem Tag schottische Fürstenclans in der Schlacht von Harlaw, 1832 wurde die Sklaverei in Chile abgeschafft und 1938 wurde erstmals die Eiger Nordwand bestiegen. Da ist noch Platz für einen potentiellen großen Wurf.

Nun sind bei Werken in den Frühzeiten einer Technologie die Herkulesaufgaben ihrer Entstehungsgeschichte und die technischen Details oft wichtiger als der Inhalt. Deswegen erinnert der von Google gemeinsam mit den Brüdern Scott produzierte Film "Life in a Day" zunächst auch an jene Kinetoskop-Vorführungen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals zeigte man auf Kirmesplätzen und in Schaubuden kurze Sequenzen mit Bewegtbildern von Hahnenkämpfen, springenden Pferden und Alltagsszenen, die vor allem darauf ausgelegt waren, die ungeschulten Sehgewohnheiten des 19. Jahrhunderts zu überfordern.

Google und die Scott-Brüder haben nun gemeinsam mit dem Regisseur Kevin Macdonald den ersten Film gedreht, der die sozialen Technologien des 21. Jahrhunderts in eine lineare Erzählform übersetzt. "Life in a Day" geht also den umgekehrten Weg wie die Schnipsel, mit denen Thomas Alva Edison Werbung für die neue Technologie des Films machen wollte. Das traditionelle Medium Film soll hier das komplexe Konstrukt der sozialen Medien begreifbar machen.

Über Googles Videowebseite YouTube hatten die Scotts und Regisseur Macdonald die Nutzer aufgerufen, am 24. Juli 2010 Videoaufnahmen zu machen, die dann zu einem Film verarbeitet werden sollten. Eingegangen sind dann Beiträge von 80 000 YouTube-Nutzern aus 140 Ländern, die Material in einer Länge von 4600 Stunden produziert hatten. Ein normaler Dokumentarfilm wird in einem Verhältnis 1 zu 10 gedreht, das heißt, dass der Regisseur für 90 Minuten Kino rund 15 Stunden Material sichten und in Form bringen muss.

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Die Leistung, aus einem solchen Material ein in sich schlüssiges Filmwerk zu erstellen, ist natürlich beeindruckend. Sie spiegelt vor allem all das wieder, was die gegenwärtige Entwicklungsphase des Internets einem so an modernen Gesellschaftsformen anpreist. Das "Crowdsourcing", wie das Rekrutieren von freiwilliger Arbeitskraft im Internet genannt wird. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse in der Realtime-Welt des Cyberspace. Das Egalitätsprinzip des Internets, das einem historischen Ereignis die gleiche Datenmenge und -geschwindigkeit garantiert wie einer Alltäglichkeit.

Und doch erinnert "Life in a Day" in Ästhetik und Inhalt nicht nur metaphorisch an die Kinetoskopfilme des 19. Jahrhunderts. Ein Großteil der Sequenzen sind Amateuraufnahmen, mit den üblichen Mängeln in Licht, Ton und Tiefenschärfe. Um den Kinobesucher mit dieser "Do it yourself"-Ästhetik nicht zu überfordern, gibt es dazwischen immer wieder Zwischenbilder von Landschaften, Städten und Sonnenuntergängen, die Macdonald auf professionellem 35mm-Material drehen ließ.

Einige der unzähligen Handlungsstränge, die in diesem Film einzig und allein vom Verlauf der 24 Stunden eines Tages zusammengehalten werden, sind durchaus anrührend. Der Vater in einer der japanischen Wohnwaben, der mit seinem kleinen Sohn der verstorbenen Mutter ein Räucherstäbchen anzündet. Der Vater aus Sri Lanka, der in einer Villensiedlung in Dubai die karge Einsamkeit des Fremdarbeiterlebens auf sich nimmt, um der Familie daheim Geld zu schicken. Die amerikanischen Frontsoldaten, die vor einem Einsatz herumalbern. Geburt, Krankheit, Freude, Trauer, Kinder, Tiere - was da als beliebige Collage durchaus einen filmischen Sog entwickelt, hat allerdings durchaus einen ideologischen Subtext und nicht nur dokumentarischen Wert.

Der letzte vergleichbare Film war Godfrey Reggios "Koyaanisqatsi", eine Montage aus Landschafts- und Stadtbildern in verschiedenen Geschwindigkeiten, die zu den Minimal-Music-Kaskaden von Philip Glass zum pathetischen Klagelied gegen die zerstörerischen Kräfte der Zivilisation wurde. "Life in a Day" ist dagegen die Verherrlichung des Banalen durch einen Konzern, der sein Geschäftsmodell zu einem guten Teil auf einem radikalen kulturellen Gleichheitsprinzip aufgebaut hat.

Die sozialen Medien des Internets, so die Maxime, haben eine Chancengleichheit der kulturellen Wertigkeit geschaffen, in der ein Halbwüchsiger, der vor der Webcam zu einem Popsong Grimassen schneidet, ebenso viel gilt wie die Aufnahme eines Cellokonzertes von Yo-Yo Ma oder von einer Performance von Marina Abramovic. Das ist ein verführerischer Trugschluss, der eher an sozialistische Verirrungen als an Clay Shirkys Idee von "Here comes everybody" erinnert. Doch der letzte Schluss aus diesem Film bleibt - das ganze Leben ist letztlich nur Rohmaterial für eine digitale Utopie.

LIFE IN A DAY, USA 2011 - Regie: Kevin Macdonald. Schnitt: Joe Walker. Rapid Eye Movies, 95 Minuten.

© SZ vom 21.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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