Theater:Harry Potter und die Sehnsucht nach dem Brexit

Harry Potter - Theaterstück

Diese Welt ist nicht von heute: Die Zauberer leben in den Verhältnissen des viktorianischen Zeitalters. Und mit ihnen träumt sich ganz Großbritannien aus der Gegenwart.

(Foto: dpa)

Harry Potter, um 19 Jahre gealtert: In London bejubeln Fans den achten Teil der Zauberlehrlings-Serie. In dem Theaterstück dürfen die Briten eine Sehnsucht ausleben.

Von Thomas Steinfeld

Die Geschichte von Harry Potter hätte eigentlich abgeschlossen sein sollen. Jetzt ist doch noch eine Fortsetzung erschienen - nicht als Buch, nicht als Film, sondern als Theaterstück: "Harry Potter and the Cursed Child" ("Harry Potter und das verfluchte Kind").

Es ist nur an einem Ort der Welt zu sehen, im Palace Theatre in London, und nicht einmal jeden Tag. Auf der Warteliste für Eintrittskarten stehen deshalb mittlerweile mehrere Hunderttausend Namen, und das Script für das Schauspiel ist gegenwärtig das meistverkaufte Buch der Welt. Es dürfte das erste Mal sein, dass einem Dramentext ein solcher Erfolg widerfährt.

Fast zwanzig Jahre sind vergangen, seitdem Harry Potter in die Welt trat, mit dem ersten Roman der britischen Autorin J. K. Rowling. Sechs dicke Bücher folgten, in denen die aristokratische Parallelgesellschaft der Zauberer epische Gestalt annahm. Die Handlung des Theaterstücks setzt neunzehn Jahre nach dem Ende des letzten Romans ein: Harry Potter, mittlerweile leitender Beamter in einer Zauberbehörde, bringt seinen jüngeren Sohn Albus Severus Potter zum Bahnhof King's Cross, damit dieser das erste Jahr im Internat Hogwarts besuchen kann. Doch das Unglück dieses Kindes findet sich schon in seinen Namen ausgedrückt.

Die Zauberer leben in den Verhältnissen des viktorianischen Zeitalters

Übergroß lastet die heldenhafte Vergangenheit des Vaters auf dem Sohn, und jeder Versuch, sich ein eigenes Dasein zu erobern, kann nur in noch größeres Unglück führen. Und so geschieht es, doch selbstverständlich gibt es einen Weg auch aus solchen Katastrophen, und er führt am Ende zurück in jene Parallelgesellschaft, in der die Kinder wie die Eltern werden und in der alles in Ordnung ist, wenn nur die Generationen miteinander harmonieren.

Harry Potter und seine Gefährten leben in einer geschlossenen Welt, und wenn das Böse nicht triumphiert, sind ihre Lebensläufe vorgezeichnet. Deshalb ist diese Welt nicht von heute: Die Zauberer leben, erkennbar an ihren Wohnungen, an ihren Gerätschaften und an ihren Sitten, in den Verhältnisses des viktorianischen Zeitalters - damals regierte eine kleine Gruppe britischer Aristokraten die Welt, und sie ließ sich inspirieren von imaginären mittelalterlichen Schauspielen wie der Ritter-Oper "Ivanhoe". Sie wurde ausgerechnet in dem viktorianischen Theater uraufgeführt, in dem jetzt "Harry Potter" gespielt wird. Antiindustriell ist diese Scheinwelt, ländlich, von familiären Beziehungen geprägt - und britisch bis auf den Grund der Teetasse.

Die Wiederholung der Wiederholung ist das Schicksal Harry Potters

Vor 120 Jahren spendeten solche mittelalterlichen Träume ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit inmitten einer sich beschleunigenden und immer unsicherer werdenden Welt. Doch ist es anders, wenn solche Träume nicht zum ersten, sondern zum zweiten oder dritten Mal geträumt werden - denn die Träume von Träumen sind dünner, hoffnungsloser als die Träume, die noch jung sind.

Die Wiederholung der Wiederholung aber ist das Schicksal Harry Potters, und wenn dieses Schicksal in den Romanen noch nicht deutlich erkennbar war, so ist es im Theaterstück unübersehbar. Das Publikum ist begeistert. Aber es jubelt einem Werk zu, in dem absolute Enge und Überschaubarkeit als das höchste Glück gilt. Gibt es ein Werk, das besser in die Zeiten des "Brexit" passt?

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