"Neruda" im Kino:Versmagier, Frauenbetörer und Busengrapscher

Kinostart - 'Neruda'

Auf der Flucht: Dichterfürst Pablo Neruda (Luis Gnecco).

(Foto: Piffl Medien)

In "Neruda" erzählt Regisseur Pablo Larraín von der chilenischen Dichterlegende Pablo Neruda - aus der Perspektive seines schlimmsten Feindes.

Filmkritik von Tobias Kniebe

Warum nicht mit der Legende beginnen, schamlos und fett? Mit Salsaklängen in der Nacht, mit einer Künstlervilla, randvoll mit Intellekt und Lebenslust, Kostümballfummel und Goldglitzer, strengen Nickelbrillen und barbusigen Tänzerinnen. Im absoluten Zentrum aber, um das alles kreist, steht der Hausherr in einer improvisierten Bettlaken-Toga, füllig, halb kahl, weltberühmt: Pablo Neruda, Dichterfürst.

Der nun, am Anfang des Films "Neruda", allen Ernstes noch eines seiner berühmten Gedichte deklamiert: "Puedo escribir los versos más tristes esta noche / Heute Nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben ..." Dazu erklärt die Erzählerstimme, was diese Verse in ganz Lateinamerika auslösen: "Viele wollen ihn küssen. Sie wollen ihn an die Hand nehmen. Sie wollen in seinem Bett schlafen ... "

Ein Dichter, der die härtesten Männerherzen erweicht und die schönsten Frauen entkleidet - an solche Fantasien glaubt das Kino gern. Und hat ihnen mit Michael Radfords "Il Postino" schon einmal einen Film gewidmet, in dem Neruda und seine Gedichte wie ein Aphrodisiakum zum Einsatz kamen, als Viagra der fühlenden Seele. Nur: Auch vor mehr zwanzig Jahren, als "Il Postino" ins Kino kam, roch diese Idee schon nicht mehr ganz so frisch.

Weshalb der chilenische Regisseur Pablo Larraín und sein Autor Guillermo Calderón nun gut beraten sind, der Sache einen etwas anderen Dreh zu geben. Zwar lassen sie Neruda (Luis Gnecco ) als Versmagier, Frauenbetörer und habituellen Busengrapscher noch einmal in all seiner pummeligen Sinnlichkeit erstehen, und mit ihm den Traum von der Macht des lyrischen Worts.

Aber die Macho-Ego-Nummer, die damit unvermeidlich einhergeht, konterkarieren sie geschickt. Der Erzähler zum Beispiel, der da von Anfang an spricht, ist kein Verehrer des Dichters. Schwer genervt scheint er die Augen zu rollen, wenn er raunt: "Wie peinlich, dieses Bauernschulgedicht noch einmal vorzutragen."

Der Präsident lässt seine ehemaligen Verbündeten plötzlich einsperren

Wer da wirklich redet, das versteht man erst, als die Party vorbei ist. Denn das Jahr 1948 bringt in Chile einen großen Verrat. Präsident Gabriel González Videla, dank der Kommunisten und vor allem dank des kommunistischen Senators Neruda an die Macht gekommen, lässt seine ehemaligen Verbündeten plötzlich verbieten, verfolgen und einsperren, auch der berühmte Dichter muss untertauchen.

Verfolgt wird er von dem ehrgeizigen Polizeichef Óscar Peluchonneau (Gael García Bernal) - und ausgerechnet dieser Schnüffler entpuppt sich als der Erzähler der Geschichte.

Der Verfolger bleibt vom Kontakt mit der Poesie nicht ganz unbeeinflusst

Nun gab es tatsächlich einen Polizeichef dieses Namens im Chile jener Zeit, und tatsächlich lebte Neruda dreizehn Monate versteckt im Untergrund, wollte erst in Valparaiso an Bord eines Schiffes gehen und überquerte schließlich zu Pferd einen Pass in den Anden, um nach Argentinien und dann weiter nach Europa zu fliehen.

Die biografischen Fakten über einen Volkshelden, der seine Verfolger narrt und schließlich in Paris an der Seite Picassos auftaucht, um sie vor den Augen der Welt zu verhöhnen, sind aber nur der Ausgangspunkt für eine wilde Fantasterei.

Die Filmemacher schmücken das Geschehen noch viel romanhafter und abenteuerlicher aus, als Neruda es selbst je getan hat. Und dabei wird dieser Peluchonneau eben nicht nur der Erzähler einer Räuberpistole, sondern praktisch eine Figur, die Neruda im Lauf seiner Flucht selbst erst imaginiert.

Der Dichter schafft sich einen würdigen Gegner im Polizeiapparat, einen smarten, im Grunde seines Herzens aber todtraurigen Ermittler, der auf der Suche nach Hinweisen auch die Gedichte des Meisters studiert - und von seinem Kontakt mit der Poesie nicht ganz unbeeinflusst bleibt.

Zwar lässt er in seiner Jagd niemals nach, wie im Western geht es schließlich über die verschneiten Hochebenen der Anden. Aber als fiktive Figur erlangt er ein Bewusstsein seiner selbst - und erkennt seine Abhängigkeit von der Legende des Dichters, die allein ihm Unsterblichkeit verschaffen kann.

Die Aufmerksamkeit der ganzen Welt als fantastische Möglichkeit

Gerade läuft noch ein zweiter Film des viel gefragten Pablo Larraín in den Kinos, "Jackie", jene Studie über Jackie Kennedy nach der Ermordung von JFK, die er direkt danach gedreht hat. Zusammen mit "Neruda" ist damit eine Art Diptychon über Ikonen des 20. Jahrhunderts entstanden, über Legendenbildung und Konstruktion von historischer Wahrheit.

Während aber Jackie als Filmfigur vom Gefühl fast erdrückt wird, dass die Augen der Welt auf sie gerichtet sind, erscheint genau dies in "Neruda" als fantastische Möglichkeit. Wer die Geschichte von Reich und Arm, Macht und Ohnmacht neu schreiben will, kann seine Legende nicht schamlos und fett genug gestalten.

Neruda, Chile 2016 - Regie: Pablo Larraín. Buch: Guillermo Calderón. Kamera: Sergio Armstrong. Mit Luis Gnecco, Gael García Bernal. Piffl, 108 Min.

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