Literatur zu Erzherzog Franz Ferdinand:Ein Untergeher

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Darstellung des Attentats in der italienischen Zeitung La Domenica del Corriere. (Foto: Art Archive / images.de)

Kein Werk der Nostalgie: Ludwig Winder veröffentlichte 1937 den erhellenden Franz-Ferdinand-Roman "Der Thronfolger". 100 Jahre nach dem Sarajevo-Attentat ist das Werk endlich wieder zu haben - ein schönes Zusammenspiel mit einer Archivstudie.

Von Gustav Seibt

Der wahre Sieger des Ersten Weltkriegs heißt Gavrilo Princip. Der neunzehn Jahre alte Gymnasiast, der am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger ermordete, löste damit die Ursachenkette aus, die am Ende zu dem führte, was er und seine Mitverschworenen von der "Mlada Bosna" und der nationalserbischen "Schwarzen Hand" ersehnten: einen zusammenhängenden Staat, der das Selbstbestimmungsrecht der südslawischen Völker verwirklichte, das Königreich Jugoslawien.

Die Koalition derer, die glaubten, dass die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie mit ihrem Völker-, Sprachen- und Religionengemisch am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr überlebensfähig war, ist groß und unehrenhaft: Sie reicht von antisemitischen Alldeutschen bis zu serbischen Nationalisten, und bis heute gehören ihr westdeutsche Modernisierungstheoretiker und Vertreter des Selbstbestimmungsrechts der Völker an. Jedes große oder kleine Volk des angeblichen habsburgischen Völkerkerkers rüttelte an den Gitterstäben, und so entstanden, wie Martin Mosebach jüngst bemerkte, immer kleinere Kerker, bis die Völker endlich in Einzelhaft saßen - der Vorgang wurde erst vor einigen Jahren in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien zu Ende gebracht.

Die interessantesten Nachrufe auf die K.-u.-k.-Monarchie werden bis heute von Juden geschrieben, die eine imposante Liste von Autoren bilden, mit Namen wie Joseph Roth, Stefan Zweig oder jüngst wieder Hannes Stein. Zu ihr zählt auch der Feuilletonist und Romancier Ludwig Winder, der 1889 im mährischen Safov (damals Schaffa) geboren wurde und 1946 im englischen Baldock als Emigrant starb. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren war er Redakteur der deutschsprachigen Prager Zeitung Bohemia, und nach Kafkas Tod wurde er in Max Brods kleinen Prager Kreis berufen, als sein Nachfolger. Er gehörte also führend zu der Prager deutschsprachigen Literatur, die wesentlich von jüdischen Autoren getragen wurde und die nach 1938 von dem antisemitischen Österreich-Flüchtling und Habsburg-Hasser Adolf Hitler verjagt und vernichtet wurde.

Winder ist ein eigenständiger, origineller Erzähler, den ein Kenner wie Karl-Markus Gauß im literarischen Rang an die Seite von Roth und Zweig stellt. Seine Romane behandeln kritisch die Geschichte des sich aus dem Ghetto befreienden Judentums, die Psychologie autoritärer Charaktere beim Übergang von altständischen zu modernen Gewaltverhältnissen und den Untergang des österreichischen Vielvölkerstaats. Er war ein Autor, der sich mit zeitgenössischen Fragen in einer historischen Perspektive beschäftigte, religiös, sozial, mentalitäts- und politikgeschichtlich. Und er ist so vergessen, dass es einen traurigen Gedenktag brauchte, um sein Hauptwerk, den "Thronfolger", die Romanbiografie von Franz Ferdinand, jetzt wieder herauszubringen.

Dies geschieht nun mit einem gelehrten, liebevollen Nachwort von Ulrich Weinzierl, der einer der besten Kenner der Wiener Literaturgeschichte um 1900 ist, und darüber hinaus als brillanter Kritiker ein später Kollege Winders. Der "Thronfolger" ist der Roman der sterbenden Monarchie. Sein Aufbau folgt der Biografie des Helden, die historiografisch so genau verfolgt wird, dass man Winders 1937, ein halbes Jahr vor dem "Anschluss" erschienenes, in Österreich aber schon verbotenes Buch heute zusammen mit einer wissenschaftlichen Darstellung lesen kann, um die wenigen Abweichungen vom modernen Kenntnisstand zu notieren.

Alma Hannigs auf neuen Archivstudien beruhende, dabei fast trocken knappe Darstellung profitiert ihrerseits stark von der Gegenprobe durch den einfühlsamen und scharfsinnigen Roman. Ein schönes Zusammenspiel: Positivistische Forschung und ausgestaltende Fiktion zeigen gemeinsam, was sie können, um einen historischen Stoff zu erschließen.

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Winders "Thronfolger" ist kein Werk der Nostalgie. Der Roman ist viel kälter als Joseph Roths Romane "Radetzkymarsch" und "Kapuzinergruft", er zeigt das, was Stefan Zweig im Untertitel seiner formal ganz ähnlichen Biografie von Marie Antoinette als "mittleren Charakter" bezeichnet: eine keineswegs durchweg einnehmende, vielmehr gequälte, quälerische, jähzornige, misstrauische, aufbrausende, zuweilen grausame Person. Berüchtigt ist die Jagdleidenschaft des Erzherzogs, der im Lauf seines Lebens mehr als 270 000 Tiere, man kann es nicht anders sagen: abknallte.

Als Enkel des neapolitanischen Bourbonen-Königs Ferdinand, der als "ré bomba" berüchtigt wurde, weil er 1848 seine eigene Bevölkerung bombardieren ließ, war ihm ein Erbe reaktionärer Bigotterie in die Wiege gelegt (neben einer Lungentuberkulose der früh verstorbenen Mutter), das die wenig kindgerechte, aufs Militärische konzentrierte Adelserziehung zum Erzherzog nicht aufhellen konnte. Franz Ferdinand war ursprünglich kein Thronfolger, dazu machten ihn erst das mexikanische Abenteuer seines Vetters Maximilian und der Selbstmord des anderen Vetters Rudolf.

Der erzählerische Kern von Winders Roman ist Franz Ferdinands Kampf um die Ehe mit der nicht-standesgemäßen böhmischen Gräfin Sophie von Chotek, die gegen das habsburgische Hausgesetz, gegen den erbitterten Widerstand des hier gar nicht gütigen Kaisers Franz Joseph und des gesamten ständischen Apparats der Monarchie erkämpft werden musste. Das ist ein Gegenstand, der Gefühl und Politik aufs interessanteste vermischt, denn er erzeugt nicht nur die Sympathie, die eine schöne Leidenschaft leicht erweckt, sondern zeigt auch die Verfassungsprobleme des monarchischen Staats: Ebenbürtigkeitsregeln beispielsweise galten nur fürs deutsche Haus Habsburg, nicht aber für die alte Krone Ungarns, die ihm nur durch Personalunion gehörte.

Hier drohte im Fall der Erbfolge also die Gefahr der Spaltung. Wie stand das alte böhmische Recht dazu? Würde man den Hass zwischen den Staatsvölkern, der sich auch an dieser Frage entzündete, durch ein drittes monarchisches Standbein bei den Südslawen entschärfen können? Die ganze Struktur des Gebildes beginnt prismatisch zu schillern, wenn sie durch eine solche staatsrechtliche Ausnahme auf die Probe gestellt wird. Die beste Szene von Winders Buch, Franz Ferdinands feierlicher Verzicht auf die Thronfolge seiner künftigen Kinder mit Sophie vom Chotek - in einem Eid geleistet ausgerechnet am 28. Juni 1900, seinem späteren Todestag - ist nicht nur ein Moment beklemmender Demütigung, sondern auch ein Blicks ins kalte Herz der alteuropäischen Legitimität. Zeremonien können so grausam sein.

Winders Erzählung macht wenig Hoffnung, dass dieser Thronfolger, wäre er nicht erschossen worden, das schwerfällig-fragile Gebilde Österreich-Ungarn hätte retten können. Kaiser Franz Joseph flüchtete sich in eine penible Aktenführung, die nationale Empfindlichkeiten bestenfalls unterlief. Unterdessen wählten die Wiener einen demagogischen Antisemiten zum Bürgermeister, jener Dr. Karl Lueger, dem der Kaiser viermal die Bestätigung verweigerte - der demokratisch gewählte Volksheld setzte sich durch. Die Journale der freien Presse hetzten die Völker gegeneinander auf, die Geschichts- und Sprachprofessoren - Vorläufer jener Modernisierungstheoretiker, die der K.-u.-k.-Monarchie bis heute die Existenzberechtigung absprechen - bewiesen haarscharf, dass die Deutschen besser ins Deutsche Reich gehörten, die Italiener nach Italien, die Kroaten nach Serbien. Dass Österreich zur gleichen Zeit eine moderne Verwaltung, ein luxuriöses Eisenbahnnetz, Theater, Schulen und Bibliotheken in allen Provinzstädten bereitstellte, zählt selbst heute kaum noch.

Franz Ferdinand scheint, auch unter dem Eindruck einer Weltreise, die ihn durch die USA führte, eine Zeit lang an "Vereinigte Staaten von Österreich" gedacht zu haben, also an eine Föderalisierung. Dass er weder der Ungarn-Hasser war, als der er lange dargestellt wurde, noch an einen deutsch-ungarisch-slawischen "Trialismus" wirklich glaubte, zeigt Hannig. Auch war er gewiss kein Pazifist, wie man nach 1918 verzweifelt hoffte, als alles in Trümmer sank. Es muss daher eine offene Frage bleiben, wie Franz Ferdinand sich als Kaiser zu den Problemen verhalten hätte, deren schier unlösbare Gewalt er nicht zuletzt durch sein Heiratsproblem am eigenen Leib erfahren hatte.

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Trotzdem sagt schwerlich die ganze Wahrheit, wer bis heute behauptet, die Sache Österreichs sei auf jeden Fall verloren gewesen. Winders bis an den Rand der Verzweiflung skeptisches Buch enthält gegen Ende eine längere Passage, die seinen eigentlichen Nachruf auf das österreichische Friedensreich darstellt. Sie spricht vom Wohlstand, der Friedenssehnsucht, der Hoffnung auf Verbesserung bei den vielen, die nur arbeiten und leben wollten, die keine Zeitungsartikel, Geschichtsbücher und Rassentheorien im Kopf hatten: "Es duftete das Heu, es war Segen und Zufriedenheit über das Land gebreitet, es mundete nach der Arbeit das Brot, und wenn der Sonntag kam, war herrlich ein Glas Wein und ein Spaziergang über Land, mehr wollte niemand."

Aber im nächsten Satz ist schon wieder von den Zeitungen die Rede, die Tag für Tag behaupteten, so sei es gar nicht. Man begreift an dieser Stelle etwas von dem abgrundtiefen Hass des auch von Winder bewunderten Karl Kraus gegen die Presse, die Demiurgin einer "zweiten Wirklichkeit" (um hier auch noch Heimito von Doderer zu zitieren), die den Menschen ihre konkreten Erfahrungen ausreden will.

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Den Kampf und den Sieg des Schulbuben und Zeitungslesers Gavrilo Princip erzählen dann die letzten Kapitel von Winders großem Roman ebenso spannend und ähnlich genau wie jüngst Christopher Clarks "Schlafwandler", und wir erfahren: Das hat man 1937 also auch in allen wesentlichen Zügen schon gewusst. Warum spielte es dann bei den Historikern seither, die sich vor allem in die deutsche Kriegsschuld verbissen, eine so geringe Rolle? Vor dem Ersten Weltkrieg stand das erfolgreiche Attentat gegen die Habsburger Monarchie, daran darf man zum Gedenken an den Sommer 1914 erinnern.

Dass die Wiener Regierung, verblendet von ihrem dynastischen Dünkel, es versäumte, in einem großen Staatsbegräbnis die Regierungen aus ganz Europa an diese Leiche zu rufen, begreift man dank Winders Roman als den ersten von zahlreichen Fehlern, die in den Wochen nach dem Mord gemacht wurden.

Ludwig Winder: Der Thronfolger. Roman. Herausgegeben von Ulrich Weinzierl. Zsolnay Verlag, Wien 2014. 575 Seiten, 26 Euro.

Alma Hannig: Franz Ferdinand. Die Biographie. Amalthea Verlag, Wien 2013. 349 Seiten, 24,95 Euro.

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© SZ vom 28.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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