Geschichte der polnischen Juden:Paradies und Massaker

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Der farbenfrohe Reichtum einer vergangenen Kultur wird zurückgeholt, das "Paradies der Juden". (Foto: M.STAROWIEYSKA/D.GOLIK/POLIN MUSEUM OF THE HISTORY OF POLISH JEWS)

Der Holocaust wird nicht ausgespart, aber auch der verlorene Reichtum der Schtetl-Kultur thematisiert: In Warschau eröffnet das Museum der Geschichte der polnischen Juden. Es ist ein Werk, das einen neuen Standard setzt.

Von Klaus Brill, Warschau

Kann man sich eine größere Aufgabe vornehmen als die, eine untergegangene Welt darzustellen? Und dann ein schwierigeres Thema wählen als die Geschichte der polnischen Juden? Betritt man in Warschau das neue Museum der Geschichte der polnischen Juden, dann vergisst man solche Fragen sofort. Man fühlt sich schon am Eingang wie magisch ins Innere gezogen - und ist nur noch fasziniert.

Dies ist zunächst dem finnischen Architekten Rainer Mahlamäki zu danken, er hat dem Bauwerk die Gestalt eines Quaders gegeben und diesen durch einen dramatisch gewölbten Einschnitt zerteilt. Die Formation symbolisiert zum einen das Rote Meer, das sich auftürmte, als Moses die Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft herausführte. Zum anderen markiert sie eine grausame Zäsur: den Holocaust, den Genozid an sechs Millionen europäischen Juden, den die Deutschen zwischen 1939 und 1945 nicht zufällig auf dem Boden des besetzten Polen verübten.

Dieser Abgrund der Geschichte erlaubt keine Kontinuität, allenfalls kann man ver-suchen, Brücken über ihn zu schlagen. Rainer Mahlamäki und sein Team taten es, indem sie die Eingangshalle in Höhe des ersten Stocks mit zwei Übergängen versahen. "Ich glaube, das Museum ist selber eine Brücke", sagt Barbara Kirshenblatt-Gimblett: "Heilen kann man den Bruch niemals." Die Kulturanthropologin, Professorin an der New York University und Tochter eines emigrierten polnischen Juden, verantwortet als Programmdirektorin die eigentliche Ausstellung, die sie mit ihrem Riesenteam komponierte. Dutzende erstklassige Experten aus Polen, Israel, den USA und anderen Ländern standen ihr zur Seite. Das Ergebnis dieser Gemeinschaftsleistung ist ebenso überwältigend wie der große Wurf des Architekten und die Leistung des polnischen Ausstellungsdesigners Mirosław Nizio und seiner Leute.

Holocaust als "einen sehr wichtigen, aber nicht den wichtigsten Teil"

Dieses neue Haus in Warschau, das am Dienstag von den Präsidenten Polens und Israels feierlich seiner Bestimmung übergeben wird, wird sicher zu den besten historischen Museen der Welt gehören. "Nirgends sonst in der Welt werden wir solch eine außerordentliche und unvergessliche Ausstellung finden", erklärte Polens früherer Außenminister Adam Rotfeld.

Inspiriert vom Holocaust Memorial Museum in Washington, an dem er lange tätig war, hatte der Gründungsdirektor Jerzy Halbersztadt von Anfang an das Ziel verfolgt, den Holocaust als "einen sehr wichtigen, aber nicht den wichtigsten Teil" der jüdischen Geschichte zu präsentieren. Tausend Jahre jüdischen Lebens in Polen sollten das Thema sein, der Holocaust ein Teil davon. Man wollte nicht so tun, "als ob das Leben weniger wichtig gewesen wäre als der Tod", wie es der heutige Museumsleiter Dariusz Stola formuliert.

Man betritt das Jahrtausend durch einen imaginierten Wald, der legendenhaft die Ankunft der ersten Juden vermittelt. Unter ihnen waren Flüchtlinge aus dem Rheinland, sie sollen bei einer Rast im Wald aus dem Gezwitscher der Vögel die Worte "Po lin! Po lin!" vernommen haben - was im Hebräischen und Jiddischen "Bleibe hier" bedeutet, aber auch der Name für Polen ist. Tausendfach ist der Name in lateinischer und hebräischer Schrift auf den Glasscheiben aufgetragen, die die Außenwand des Gebäudes verkleiden.

Die Sache hat einen ernsten Hintergrund, nämlich die Massaker an den Juden in Mainz, Köln, Speyer und Worms bei Beginn des ersten Kreuzzuges 1095. Später kam es, beflügelt von christlicher Hetzpropaganda, wiederholt auch in anderen Städten zu tödlichen Verfolgungsjagden, etwa im Gefolge der großen Pest von 1348. Tausende Juden flohen nach Osten, ins Königreich Polen und ins Großfürstentum Litauen, die damals die tolerantesten Staaten Europas waren. Seit 1386 waren sie durch Personalunion, seit 1569 durch eine staatliche Union miteinander verbunden. Das Doppelreich, das auch weite Teile der heutigen Ukraine und Weißrusslands umfasste, reichte zeitweise von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Als multiethnisches Gemeinwesen war es für vier Jahrhunderte, bis zu den "polnischen Teilungen" von 1772, 1793 und 1795, die Heimstatt einer ungeheuren Vielfalt von Kulturen, Sprachen und Religionen. Man sprach von einem "goldenen Zeitalter" und vom "Paradies der Juden".

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(Foto: Kryoski)

Als würde das Rote Meer sich auftürmen, nach dem Auszug aus Ägypten. Das Museum der jüdischen Geschichte in Warschau.

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(Foto: M.STAROWIEYSKA/D.GOLIK/POLIN MUSEUM OF THE HISTORY OF POLISH JEWS)

Der farbenfrohe Reichtum einer vergangenen Kultur wird zurückgeholt, das "Paradies der Juden".

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(Foto: M.STAROWIEYSKA/D.GOLIK/POLIN MUSEUM OF THE HISTORY OF POLISH JEWS)

Nie entsteht der Eindruck technologischer oder emotionaler Schaueffekte, alles steht im Dienste einer großen Erzählung.

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(Foto: M.STAROWIEYSKA/D.GOLIK/POLIN MUSEUM OF THE HISTORY OF POLISH JEWS)

In Warschau legt man es darauf an, den Besucher in jede der sechs Vorläufer-Epochen des Judentums, die dem Holocaust vorausgingen, hineinzulocken.

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(Foto: M.STAROWIEYSKA/D.GOLIK/POLIN MUSEUM OF THE HISTORY OF POLISH JEWS)

Das neue Warschauer Museum reicht über das heutige Polen weit hinaus, es wird ein zentraler Strang der europäischen Geschichte erfasst.

Hier fanden die aus Deutschland und Frankreich zugewanderten aschkenasischen Juden Zuflucht, und hier entstand der legendäre Kosmos der Schtetl, jener ländlichen Siedlungen, in denen die Juden ein Drittel oder mehr der Bevölkerung stellten und ganz den Regeln ihrer Religion hingegeben lebten. Es waren die größten und geschlossensten jüdischen Gemeinden Europas, ihre Mitglieder sprachen Jiddisch, ein Amalgam aus importiertem Mittelhochdeutsch und Hebräisch mit slawischen Einsprengseln.

Im neuen Museum nimmt dieses Universum, das das NS-Regime auslöschte, eine der acht Abteilungen ein. Zusammen mit Freiwilligen bauten Handwerker bei Workshops in den Synagogen acht polnischer Städte mehrere hölzerne Häuschen eines Schtetl nach. Das Prunkstück des Ensembles und des gesamten Museums ist die detailgetreue Kopie von Teilen einer barocken Synagoge, die 1650 in Gwoździec erbaut wurde, einem Ort in Galizien, der damals zu Polen gehörte und heute ukrainisch ist. Ihre farbenprächtige Holzdecke, mit Tier- und Pflanzensymbolen üppig bemalt, gibt eine Ahnung vom kulturellen Reichtum dieser untergegangenen Welt.

Aufstand im Warschauer Ghetto vor 70 Jahren
:Kampf um die Menschenwürde

Das Warschauer Ghetto, in dem Hunderttausende Juden eingepfercht waren, ist das Symbol der Nazi-Terrorherrrschaft in Polen. Am 19. April 1943 wagen die Bewohner den Widerstand, der nach vier Wochen blutig niedergeschlagen wird. Polen erinnert daran - und eröffnet ein neues Museum.

Souverän wird hier mit hergebrachten wie mit den allerneuesten Ausdrucksmitteln der Museumskunst operiert - 170 historische Originalstücke konkurrieren mit 73 interaktiven und 120 passiven Multimedia-Positionen. Nie entsteht der Eindruck technologischer oder emotionaler Schaueffekte, alles steht im Dienste einer großen Erzählung, die Schautafeln, die Wandgemälde und die reproduzierten Faksimiles, das überglitzerte Krakauer Stadtrelief, die Geräuschkulisse oder der Touchscreen, der Alltagsszenen aus einem Schtetl reproduziert. Die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts wird in einer nachgebauten Warschauer Geschäftsstraße präsentiert.

So ergibt sich ein markanter Unterschied zum Jüdischen Museum in Berlin; dieses steht ganz im Zeichen des vom Architekten Daniel Libeskind inszenierten gewaltsamen Bruches, den der Holocaust darstellt. Die Ansprache ist intellektuell, die entstandene Leerstelle stets gegenwärtig. Hingegen legt man es in Warschau darauf an, den Besucher erst einmal in jede der sechs Vorläufer-Epochen hineinzulocken. "Wir erschaffen ein Theater der Geschichte", sagt Barbara Kirshenblatt-Gimblett.

Umso stärker wirkt dann der Schrecken des Holocaust, wenn man nach den Jahr-hunderten des kreativen Miteinanders, das freilich schon im 17. Jahrhundert durch Massaker unterbrochen wurde, mit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis konfrontiert wird, den Gaskammern und Mördergruben. Sie befanden sich nicht zufällig in jener europäischen Schicksalslandschaft zwischen Weichsel und Dnjepr, die im Mittelalter zum polnisch-litauischen Commonwealth und von 1795 bis 1918 zum zaristischen Russland gehörte, das hier für die Juden eigens einen Ansiedlungsrayon auswies. Er umfasste nicht nur den Osten Polens, sondern eben auch weite Teile Litauens, Weißrusslands, der Ukraine und Moldawiens. Es war kein Zufall, dass 1939 in diesem dann wieder überwiegend polnischen Gebiet wohl um die 80 Prozent aller europäischen Juden lebten, die sogenannten Ost-Juden, und dass gerade hier die Deutschen ihre Todeslager errichteten.

Heute gibt es in Polen nur noch 20 000 Juden

Das neue Warschauer Museum reicht deshalb über das heutige Polen weit hin-aus, es wird hier ein zentraler Strang der europäischen Geschichte und des Weltjudentums erfasst. Die Holocaust-Abteilung evoziert natürlich auch das Warschauer Ghetto, auf dessen Terrain das Museum ja steht, gleich neben dem Denkmal für die Helden des Ghettoaufstands von 1943. Man schöpft aus dem Geheimarchiv des Ghetto-Häftlings Emanuel Ringelblum, zeigt die Judenretter im Untergrund genauso wie andere, die Juden an die Deutschen verrieten oder bei Massakern mittaten, so in Jedwabne 1941. Auch die Hetzkampagnen der Nachkriegszeit fehlen nicht, sie trieben viele Holocaust-Überlebende fort. Heute gibt es in Polen nur noch etwa 20 000 Juden - 1939 waren es 3,3 Millionen, von denen 1945 nur noch 300 000 am Leben waren.

Die seit Jahren laufende Auseinandersetzung der Polen mit ihrer jüdischen Geschichte erreicht mit diesem Museum ihr höchstes Niveau, was auch den vielen internationalen Spendern zu verdanken ist, darunter die deutsche Regierung, und vor allem den Trägern des Projekts: der Vereinigung des Jüdischen Historischen Instituts in Polen, der Stadt Warschau und dem polnischen Kulturministerium.

Es ist ein Werk gelungen, das einen neuen Standard setzt und das ebenso wie andere Museen in Warschau, Krakau oder Danzig das neue, befreite Polen als eine Heimstatt ungeheurer Kreativität enthüllt. Vor allem aber wird mit diesem Haus und mit seiner Ausstellung den Opfern der Geschichte eine besondere Ehre erwiesen. Sie sind nicht vergessen.

© SZ vom 27.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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