Digitales Zeitalter:Die total technisierte Gesellschaft braucht Romantik

Bus, New York

Schon längst wundert sich niemand mehr über all die Menschen, deren Blick im Sekundentakt aufs kleine Display in ihren Händen geht.

(Foto: REUTERS)

Mit Algorithmen und Apps wollen wir unser Leben verbessern. Doch dieser Optimierungswahn entzaubert unsere Welt.

Ein Gastbeitrag von Tim Leberecht

Die Quantifizierung des Lebens war ein großes Versprechen. Alles sollte besser werden. Die Arbeit, die Gesundheit und letztlich der Mensch. Apps und Programme können die Leistung, den Blutdruck und den Schlaf kontrollieren. Doch die Datafizierung des Arbeitsplatzes geht inzwischen weit über alles hinaus, was man mit herkömmlichen Techniken hatte messen können.

Soziometrische Applikationen wie der "Meeting Mediator" zeichnen auf, wer in Konferenzen das Gespräch dominiert, und sogenannte Mood oder Sentiment Analytics messen emotionale Schwingungen im Laufe des Arbeitstages. Das mag als digitaler Taylorismus anmuten, mit Datenanalysten als den Bürokraten der Netzökonomie, aber letztlich ist es eine konsequente Erweiterung der Maxime des modernen Managements: "Man kann nur managen, was man misst."

Algorithmen können alles. Aber sie kennen kein Mitgefühl

Der Widerstand allerdings wächst. Nicht nur, weil Geheimdienste die Messbarkeit zur Totalüberwachung benutzen. Auch Unternehmen wecken mit ihren Kontrollmechanismen Ängste und Zorn. Während des Geiseldramas in Sydney im letzten Winter erhöhte der Taxidienst Uber aufgrund gestiegener Nachfrage kurzfristig seine Preise in der Stadt. Die australische Öffentlichkeit war empört.

Ähnlichen Unmut erregte Facebook mit seinem personalisierten Jahresrückblick. Für jeden Nutzer stellt das soziale Netzwerk jedes Jahr eine Art "Best of" an Updates zusammen und präsentiert sie als farbenfrohes und fröhliches Album. Als der Amerikaner Eric Meyer seine persönlichen 2014-Highlights öffnete, sah er sich dabei plötzlich mit einem Foto seiner im vergangenen Jahr verstorbenen Tochter konfrontiert. Wie bei Ubers Fehler steckte auch hinter Facebooks unglücklicher Entscheidung ein Algorithmus. Der kann alles, nur kein Mitgefühl, und in einem Blog-Eintrag sprach Meyer daraufhin von "versehentlicher algorithmischer Grausamkeit".

Algorithmen sind die kleinen Katalysatoren der großen Datafizierung. Gemeinsam mit Big Data sind sie die Gestaltungsmittel unserer Zeit. Sie helfen, die Welt zu vermessen, zu begreifen und zu verwerten. Amazon und andere Online-Händler reduzieren uns auf eine Serie von Klicks in immer enger werdenden "Filterblasen", in denen intelligente "Empfehlungsmaschinen" uns das zu sehen geben, was wir schon einmal gesehen haben. Google beansprucht für sich die absolute algorithmische Wahrheit und beginnt Suchergebnisse nicht nur nach Popularität, sondern auch nach "Wahrhaftigkeit" zu ranken.

Die Applewatch markiert den Beginn einer neuen Ära

Und selbst Apple, unter Steve Jobs noch umgeben von der Aura des Geheimnisvollen Genius, zeichnet sich unter seinem Nachfolger Tim Cook vor allem durch Effizienzmaschinen aus. Die Apple Watch markiert den Beginn einer neuen Ära: Sie bedient das "quantifizierbare Selbst", die Idee der totalen Datafizierung aller Lebensbereiche und der permanenten datenbasierten Selbstoptimierung.

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Eine Armbanduhr, die alles misst und uns ständig auf dem Laufenden hält. Die Apple Watch steht für das "quantifizierbare Selbst".

(Foto: AFP)

Wir sind wieder an einem Punkt der Entzauberung angekommen, der alle hundert Jahre eintritt. Angesichts der Rationalisierungs- und Normierungszwänge des Industriezeitalters beklagte Max Weber bereits im Jahre 1919 die "Entzauberung der Welt". Und er war damit nicht der Erste. Im späten 18. Jahrhundert hatte sich zuvor die romantische Bewegung in England und Deutschland gegen das Regime der empirischen Vernunft und Aufklärung gewandt, gegen eine von der Rationalität vorangetriebene Entzauberung.

Eine neue Form der Romantik könnte auch heute eine Gegenbewegung zur drohenden Total-Quantifizierung unseres Lebens werden. Lange war sie ein Unwort, verdächtig, weil sie eine übertriebene Gefühligkeit symbolisiert, die man in der Liebe, aber nicht im Leben zulassen will. Doch nun braucht die technisierte Gesellschaft sie mehr denn je.

Von den romantischen Dichtern der Vergangenheit bis zu den romantischen Helden der Pop-Kultur sind die entscheidenden Merkmale des Romantikers über die Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger dieselben geblieben: eine Emanzipation der Gefühle und der Sinne vom Intellekt. Dazu kommen Interesse am Fremden und an (Welt-)Fremdheit, die Pose des Widerspruchs, eine Wertschätzung für das Erhabene, Geheimnisvolle und Heimliche und der Glaube an Vorstellungskraft und Schönheit als Wege zu spiritueller Wahrheit. All diesen Charakterzügen ist das Streben nach einem erfüllteren Leben gemeinsam, das die Grenzen der Rationalität, der sozialen Normen und der kognitiven und emotionalen Kohärenz hinter sich lässt.

Die Wirtschaft hat den Romantikbegriff trivialisiert

Nur, wo soll diese neue romantische Bewegung ihren Anfang nehmen? Der ideale Ort wären die wirkungsmächtigsten Systeme unserer Zeit: die Unternehmen. Schließlich verbringen die Menschen die Mehrzahl ihrer wachen Stunden mit Arbeit, und die Produkte, Dienstleistungen und Marken der Konsumgesellschaft prägen ihre Normen und Träume. Wenn es um Sehnsucht geht, hat in der Marktgesellschaft das Marketing die Feder in der Hand.

Die Wirtschaft hat den Romantikbegriff trivialisiert. Doch sie hat die Macht, ihn jetzt wieder zu enttrivialisieren. In diesem Sinne haben Unternehmer und Markenexperten das Potenzial, die romantischen Dichter unserer Zeit zu sein. Sie können Marken- und Kundenerfahrungen dem Diktat der Maximierung und Optimierung entreißen, mit oder ohne Technologie.

Gegen die Entzauberung müssen neue Illusionen produziert werden

Vereinzelt lassen sich schon erste Beispiele finden: von der School of Poetic Computation in New York, die Softwareentwickler als Dichter ausbildet, zu geheimen Event-Reihen wie Secret Cinema oder Underground Supper Clubs, die die flüchtige Begegnung, den Zauber der Ahnung und Mehrdeutigkeit zelebrieren. Etsy, die E-Commerce-Plattform für handgefertigte Produkte, unterhält sogar einen internen Geheimbund mit der Aufgabe den Arbeitsplatz zu verzaubern: das "Ministry of Unusal Business".

Flashmobs oder das Burning-Man-Wüstenfestival bieten rauschhafte Grenzerfahrungen, bei denen man sich vergessen und verlieren kann - rohe Emotionen anstelle von emotionaler Intelligenz, als ultimatives Alleinstellungsmerkmal in einer Verbraucherkultur geprägt von Datenerfassungsakribie, Kontrolle und Nutzerfreundlichkeit.

Für die neuen Romantiker geht es darum, neue Illusionen zu produzieren und im Licht der Daueröffentlichkeit und radikalen Transparenz wieder Intimität und Geheimnis zu finden. Authentische Erfahrungen werden inmitten von künstlicher Intelligenz zum Luxus, wobei es einen großen Unterschied gibt zwischen Wahrheit und Authentizität. In einer vollends digitalisierten und zunehmend virtuellen Welt verbleibt als einzige Arena für authentische Erfahrungen, was sich echt anfühlt.

Dies ist natürlich das Schlüsselprinzip von "Augmented Reality" und "Virtual Reality". Ob Computerspiele oder simulierte Umgebungen: der Glaube, dass eine Realität nicht genug ist, dass es da immer noch eine andere Welt gibt, ist ein zutiefst romantischer. Die verborgenen Tiefenschichten, nach denen sich die romantischen Dichter sehnten, sind jetzt in drei Dimensionen erlebbar. Mithilfe von Microsofts HoloLense, Google Glass oder Oculus Rift werden virtuelle Welten zum Greifen, ja sogar zum Eintreten nah. Hier werden die zukünftigen Schlachten zwischen Erbsenzählern und Romantikern geschlagen.

CeBIT 2015

Mit der Videobrille "Oculus Rift" kann man sich in digitale Welten versetzen, wie diese beiden Besucher der Computermesse Cebit in Hannover.

(Foto: dpa)

Authentische Erfahrungen werden inmitten von künstlicher Intelligenz zum neuen Luxus

Und das ist gut so. George Orwells berühmtestes Werk, zuerst erschienen 1949, heißt "1984" und erzählt von einer Welt totaler Kontrolle. In eben diesem Jahr aber erschien mit William Gibsons "Neuromancer" die 1.0-Version der Cyperpunk-Genres, die auf der Suche nach dem "ultimativen Hack" Wissenschaft und Technologie mit romantischen Impulsen verband. Mehr als 30 Jahre später sind beide Zukunftsvisionen allgegenwärtig.

Die Apostel des Quantifizierbaren fordern ja selbst, dass alles, was gedacht wird, verstanden, dass alles, was geschrieben wird, gelesen, und alles, was gesagt wird, gehört wird. Kurz gesagt: Sie sind entschlossen, jeden Zweifel zu beseitigen. Dabei ist doch eine der machtvollsten Ideen der romantischen Bewegung die "negative Kapazität", die der britische Dichter John Keats 1817 als die Fähigkeit definierte, "das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen".

Die besten Dinge im Leben lassen sich nicht optimieren

In der nahenden überwachenden und selbstüberwachten Wissensgesellschaft bietet uns die Romantik den einzigen Ausweg. Von Anonymous zu Edward Snowden: Die romantischen Helden der Zukunft werden vor allem "Hacker" sein - Software-Rebellen, Dissidenten und Freidenker, die am System leiden und nicht anders können, als es zu manipulieren und mit alternativer Bedeutung zu füllen. Sie setzten digitale Technologien ein, um die Welt umzuschreiben oder sie zumindest anders zu lesen. Sie schaffen wieder Reibung, wo reibungslos zusammengearbeitet wird. Sie bringen den Zweifel zurück in ein Leben von universeller Lesbarkeit und Uneindeutigkeit. Sie wissen, dass sich die besten Dinge im Leben nicht optimieren lassen.

Und in der Tat: Anstatt neue Messwerte für alte Wahrheiten zu finden, sollte man wieder schätzen lernen, was man nicht messen, nicht quantifizieren kann. Ein großer Wert des Menschen ist eben, dass er unberechenbar bleibt. Eine Kultur aber, die nur noch den Daten vertraut, ist nicht vertrauenswürdig. Eine Gesellschaft, die nur noch funktionsfähig, aber nicht mehr leidensfähig ist, wird schnell eine inhumane Gesellschaft. Sie braucht dringend Platz für unsere Sehnsucht nach Sehnsucht. Es ist wieder einmal Zeit für Romantik, und diesmal ist die Lage ernst: Nur wer die Welt romantisiert, kann sie auch humanisieren.

Der Autor arbeitet seit vielen Jahren in San Francisco als Marketing- und Innovationsberater. Zuletzt erschien von ihm "Business-Romantiker: Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben" (Droemer-Knaur).

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