Philosophie:Was ist das gute Leben?

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Was ist ein "gutes Leben" in Zeiten des Kapitalismus? Der Film "Ziemlich beste Freunde" zeigt jedenfalls, dass Freundschaft einen Teil von gutem Leben ausmacht. (Foto: imago stock&people)

Es ist eine uralte Frage der Menschheit und bedeutet für jeden etwas anderes. Trotzdem scheint eine klare Antwort in unserer Gegenwart schwieriger denn je.

Von Bernd Graff

An jedem Abend, in den letzten Werbe-Sekunden vor der "Tagesschau" im Fernsehen, hört man diesen schiefen Satz: "Jeder hat sein ganz persönliches gut." Dazu sieht man eine Reihe bunter Typen, die sägen, bohren, pinseln, als ob morgen alles Werkzeug verboten würde. Irgendeinen Do-it-Yourself-Traum hat jeder - nur: alle werkeln irgendwo allein für sich daran, ihr "gut" zu schaffen.

Vor einigen Tagen lud Kanzlerin Angela Merkel zum "Bürgerdialog", einer Veranstaltung, mit der man herausfinden wollte, was "gut leben" heute für die Menschen in Deutschland bedeutet. Doch auch hier hatte jeder nur sein "ganz persönliches gut" vorzutragen - und, klar, sein ganz persönliches wehe. Der Abend geriet zum Holterdipolter von Privat-Sorgen, -Ängsten, -Nöten. Die Kanzlerin konnte sich das nur anhören.

Wie hat es dazu kommen können, dass man die Frage nach dem "gut leben" und dem "guten Leben" nur noch "persönlich" beantworten kann: als ein Privatissime. Jeder beantwortet für sich, was da drängend, wichtig, richtig und gut ist: Klimaschutz? Flüchtlinge? Homo-Ehe, Folgen der Globalisierung, KITA-Plätze? Oder doch TTIP?

Was ist heute das "gute Leben"?

Das ist zunächst nicht mehr als ein Befund. Doch ist die Frage nach dem "guten Leben" eine uralte Menschheitsfrage, die in allen Kulturen zu allen Zeiten gestellt - und eben auch beantwortet wurde. Unterschiedlich, sicherlich. Doch dass eine Zeit, die unsere, nicht mehr verbindlich weiß, was das gute Leben ist, muss als ungeheuerliches historisches Novum bewertet werden. Es fällt ja kaum mehr auf, dass im späten Kapitalismus nur noch solipsistische Ziele verfolgt werden - die von der Werbung dann als Ausdruck eines souveränen Individualismus propagiert werden.

Wie konnte es dazu kommen? Peter Sloterdijk sieht die moderne Welt im Steigerungswahn einer Losung von Karl V. gefangen: "Plus Ultra" hatte der letzte römisch-deutsche Herrscher zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgegeben. Ein Motto, so anmaßend wie erfolgreich: Karl V. hatte das "Non" aus "non plus ultra" gestrichen und aus: "Bis hierher und nicht weiter!" ein: "Immer weiter" gemacht. Plus Ultra steht heute noch in der spanischen Flagge.

Sloterdijk erkennt darin den Appell zu einer zügellosen Steigerung, die man Wachstum und Fortschritt nennt. Doch selbst dem Steigerungswilligsten erscheinen Aufwand und Ertrag, Kosten und Nutzen irgendwann unvereinbar. Man erlebt dann nur noch den Exzess des Konsumierens und - wie der französische Essayist Pascal Bruckner sagt - "die Routine der Ausschweifung". Oder, um es mit dem Vorschlaghammer Adornos zu sagen: Was Frau Merkel da beim Bürgerdialog erlebt hat, war die Erfahrung, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann.

Die befreiende Haltung, die Sloterdijk dagegen setzt, stammt von Diogenes von Sinope. Für Sloterdijk war dieser griechische Philosoph des vierten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung der Mann, "der die ursprüngliche Verbindung zwischen Glück, Bedürfnislosigkeit und Intelligenz in die westliche Philosophie bringt - ein Motiv, das sich in allen vita simplex-Bewegungen der Weltkulturen findet." Das einfache Leben also, ist dies also das gute?

Es ist nicht so, dass keine Abwehrreaktionen auf den hirnlosen Konsumrausch, die gesuchten Ekstasen, die himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Spätmoderne entstanden wären: Mit Begriffen wie Nachhaltigkeit, Ganzheitlichkeit, Achtsamkeit, Resilienz sind Versuche beschrieben, dem überhitzten Wahnsinn, der Unfairness der Altmoderne Gegenentwürfe anzubieten, die wenigstens in die Richtung auf ein gutes Leben weisen.

Allein: Auch die "Lifestyles of Health and Sustainibility", die Stile, ein gesundes, nachhaltiges Leben zu führen, die derzeit von urbanen Kulturkreativen gepflegt werden, sind systemfähige und -erhaltende Stile - man muss sie sich zudem leisten können. Und die Ego-Techniken zur Erhöhung von Widerstandsfähigkeit, Bewältigung und Selbsterhaltung, die nun Resilienz genannt werden, sind Privat-Strategien, die eigene Verwundbarkeit zu überwinden, um sich also fit zu halten gegen den Unbill. An der grundsätzlichen Verwundung ändern sie nichts. Und mit Rhabarber-Schorle trinkt man sich den Spätkapitalismus auch nur schön.

Disziplinierung und Gehorsam versus Freude und Freiheit

Darum lohnt es sich, auf das zu schauen, was einst als "das gute Leben" galt. Michel Foucault hat dies getan und festgestellt: natürlich meint gutes Leben zum einen das angenehme, sichere Leben für den einzelnen. Aber es meint auch das im ethisch-moralischen Sinne anständige Leben im Sinne der Gemeinschaft. Gutes Leben ist immer - und meist sogar zuerst - eine sozial-ethische Kategorie.

So ist die Frage danach, was es denn sei, das gute Leben, nahezu immer nicht-hedonistisch beantwortet worden. In den hellenistischen und römischen Schriften von Platon bis Plutarch, Seneca, Epiktet, Marc Aurel, Plinius findet Foucault Anleitungen, Übungen und Vorschriften, die zu gutem Leben in dieser doppelten Hinsicht führen sollen. Natürlich geht es dabei um Mäßigung und kritische Selbstbetrachtung. Doch anders als in den sado-masochistischen Vorschriften der Askese, die das Christentum später daraus machte, geht es hier nicht um Disziplinierung und Gehorsam, sondern um Freiheit und Freude.

Foucault nennt sie Anleitungen zu: "Der Sorge um sich" (Le Souci de soi), "der Kultur seiner selbst", "der Ästhetik der Existenz". Damit ist das Gegenteil von dem gemeint, was man heute "Selbstoptimierung" nennt. Im Gegenteil: In der Rückführung auf den Wortstamm der Ästhetik: Aisthesis ( Wahrnehmung, Empfindung, wie er auch in der An-Ästhesie steckt), formuliert Foucault, dass damit eine Rückbesinnung auf sich selber gemeint ist, die "conversio ad se", die nicht dazu rät, allem Weltlichen zu entsagen, sondern einen Weg zu wählen, "über den man, alle Abhängigkeiten und alle Knechtungen vermeidend, am Ende sich selbst erreicht."

Seneca will im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in täglicher Überprüfung "sich vor sich selbst verantworten", "sich Rechenschaft geben über sein sittliches Verhalten", sich "inspizieren" "nichts vor sich verbergen", "nichts durchgehen lassen". Es geht ihm nicht um Bändigung, Abkehr oder Abtötung seiner Existenz, um einen Sieg über seinen Körper, sondern um Wahrhaftigkeit, um Aneignung und Besitz seiner selbst: er will nur sich gehören, sein eigener Herr sein, Macht über sich ausüben, sein eigen sein - und niemandem sonst gehorchen.

"Der Wille, ein moralisches Subjekt zu sein, und die Suche nach einer Ethik der Existenz waren in der Antike ein Bemühen, seine Freiheit zu behaupten und seinem eigenen Leben eine Form zu geben, in der man sich anerkennen und von den anderen anerkannt werden konnte. Sogar die Nachwelt konnte sich daran ein Beispiel nehmen.", sagt Foucault in "Ästhetik der Existenz".

Suche nach einer neuen Ästhetik der Existenz

Und man gibt sich nicht bloß zufrieden mit dem, was man ist, man erfreut sich an sich selber. "Disce gaudere", "Lerne, dich zu freuen!", heißt es bei Seneca.

Da die realen, objektiven Krisen und Problemlagen der Moderne heute sich erwiesenermaßen nicht durch individuelle Betroffenheiten und "persönliches gut" lösen lassen, "sehen sich Angehörige unserer Zivilisation unter Leidensdruck gezwungen, quasi neu-klassisch das Erkenne-dich-selbst zu wiederholen." (Sloterdijk). Dem "Fehlen einer allgemeinen Moral muss eine Suche entsprechen, nämlich die nach einer neuen Ästhetik der Existenz." (Foucault) So formuliert aktuelle Philosophie den Weg zu gutem Leben und Freiheit. Wer weiß. Fest steht aber: Das Werkzeug zu ihrer Entdeckung gibt es nicht im Baumarkt.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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