HIV:In Russland braut sich eine Superseuche zusammen

HIV: Der Tuberkulose-Erreger Mycobacterium tuberculosis - vor allem in russischen Gefängnissen tauchen immer mehr antibiotikaresistente Varianten auf

Der Tuberkulose-Erreger Mycobacterium tuberculosis - vor allem in russischen Gefängnissen tauchen immer mehr antibiotikaresistente Varianten auf

(Foto: Photographer: Janice Carr)
  • In Russland infizierten sich im vergangenen Jahr etwa 95 000 Menschen neu mit HIV.
  • Es ist die einzige Region in der Welt, in der sich die HIV-Epidemie weiterhin ausbreitet.
  • Häufiger Ansteckungsort für diverse Infektionskrankheiten, darunter HIV und Tuberkulose, sind die Gefängnisse im Land.

Von Christoph Behrens

Auf die Aktivisten der Andrey-Rylkov-Stiftung kann Russland sich verlassen. Die Freiwilligen fahren jeden Tag in die Vorstädte Moskaus, beladen mit Kondomen und HIV-Tests. Sie klären über Risiken von ungeschütztem Sex auf, verteilen saubere Spritzen an Drogenabhängige, helfen Randgruppen, um die sich sonst kaum jemand kümmert. Sie tun alles, um die HIV-Epidemie im Land zu stoppen.

Doch der Staat missbilligt all das. In diesem Jahr erklärte das russische Justizministerium die Rylkov-Stiftung zu einem "ausländischen Agenten", die Nichtregierungsorganisation betreibe "politische Aktivitäten". Statt gegen die Ausbreitung von HIV zu kämpfen, führen die Helfer seither einen Papierkrieg; jede verteilte Infobroschüre braucht jetzt einen offiziellen Stempel, und die Behörden durchleuchten die Finanzen der Organisation.

Kondome fördern nach Ansicht regierungstreuer Wissenschaftler die Ausbreitung von Aids

Dabei könnte der Staat die Hilfe gut gebrauchen. In Russland infizierten sich nach Angaben des Moskauer Aids-Zentrums im vergangenen Jahr etwa 95 000 Menschen neu mit HIV. Damit hat sich die Zahl der HIV-Infizierten in zehn Jahren auf mehr als eine Million verzehnfacht. "Es ist eine sehr dramatische Situation", sagt Vadim Pokrovsky. Der Leiter des Aids-Zentrums kritisiert den Umgang der russischen Regierung mit der Epidemie scharf.

Während selbst in vielen Staaten südlich der Sahara die Neuinfektionen mittlerweile zurückgehen - dank aggressiver Aufklärung und Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten - steigen sie in Russland, ebenso wie in Armenien, Aserbaidschan oder Kasachstan. Auch die Sterblichkeit aufgrund von Aids steigt, während sie global betrachtet sinkt. "Die gesamte postsowjetische Sphäre macht uns in Bezug auf Aids große Sorgen", sagt Michel Kazatchkine, Sondergesandter der UN für HIV in Osteuropa und Zentralasien. "Es ist die einzige Region in der Welt, in der sich die Epidemie weiterhin ausbreitet." 85 Prozent der Infizierten in der Region leben in Russland oder der Ukraine.

Doch es sind nicht die Zahlen allein, die Sorgen bereiten, sondern wie der Kreml sie interpretiert. So beschrieb das staatsnahe russische "Institute of Strategic Research" (RISI) das HIV-Problem kürzlich als Teil eines Informationskriegs des Westens gegen Russland. Pokrovskys Zahlen zweifeln die Forscher an und auch seine Lösungsvorschläge. Kondome beispielsweise sind nach Ansicht der RISI-Forscher sogar ein Grund für die weitere Ausbreitung der Seuche. Die Präservativ-Industrie ermutige junge Leute dazu, außerehelichen Geschlechtsverkehr zu haben. Gegen Kondome und Sexualkundeunterricht an den Schulen gebe es "erheblichen Widerstand in der Gesellschaft, etwa von der Kirche", berichtet Pokrovsky. Das beste Mittel gegen Aids, da sind sich die Geistlichen mit den RISI-Wissenschaftlern einig, sei die Ehe zwischen Mann und Frau.

Dabei infizieren sich die meisten Russen gar nicht durch Geschlechtsverkehr, sondern weil sie drogenabhängig sind. In mehr als der Hälfte der Fälle verbreitet sich das Virus über verseuchte Spritzen für Heroin, in jüngerer Zeit gesellen sich Amphetamine oder Designerdrogen dazu.

Etwa 1,8 Millionen Russen sind derzeit heroinabhängig. Von der Wirtschaftskrise besonders beeinträchtigte Regionen wie Sibirien oder der Ural sind am stärksten betroffen. Zugleich sind Methadon- und andere Substitutionsprogramme, die viele Forscher als effektivstes Mittel der Behandlung Opiumsüchtiger ansehen, landesweit gesetzlich verboten. Als Moskau vor zwei Jahren die Kontrolle auf der Krim übernahm, strich der Chef der russischen Drogenkontrollbehörde gleich am ersten Tag der Annexion das dortige Methadonprogramm für 800 Drogenkonsumenten, das die Ukraine mühsam aufgebaut hatte. Auch Ausgabestellen für saubere Spritzen, mit denen etwa Australien die HIV-Ansteckungsrate massiv gesenkt hat, gibt es in Russland kaum. "Es ist eine grausame Politik", sagt der ukrainische Aids-Aktivist Andrej Klepikow. Sie sorge dafür, dass den bedürftigsten Personen eine Behandlung verwehrt werde.

In den Gefängnissen entwickelt sich ein "perfekter Sturm", warnen Forscher

"Die russische Föderation verfolgt einen sehr eigenen Ansatz gegenüber HIV", sagt Chris Beyrer, Präsident der Internationalen Aids-Gesellschaft IAS. Dieser Ansatz sei "nicht evidenzbasiert", sagt Beyrer, es gebe sogar Beweise dafür, dass er die Grundlagen eines öffentlichen Gesundheitswesens untergräbt. Das harsche Vorgehen gegen Methadonprogramme etwa habe die Epidemie verschlimmert. Man habe es mittlerweile mit einer "zusammenhängenden Epidemie aus Drogenkonsum, HIV, Tuberkulose und Hepatitis" zu tun, sagt Kazatchkine von der UN. Fachleute bezeichnen diese Kombination verschiedener Übel bereits als "Syndemie": Viele Betroffene haben mehrere dieser Krankheiten gleichzeitig, und ein Leiden begünstigt die Verbreitung der anderen.

Sichtbar wird das etwa in den Gefängnissen: 450 von 100 000 Russen sitzen in Haft, unter ihnen überproportional viele Suchtkranke. Im Fachmagazin The Lancet warnten Epidemiologen der Universität Yale kürzlich vor einem "perfekten Sturm", der sich in osteuropäischen und zentralasiatischen Knästen zusammenbraue. Multiresistente Tuberkulose-Erreger, gegen die viele Antibiotika nicht mehr helfen, seien unter den Insassen verbreitet. Die HIV-Rate sei in den Gefängnissen im Vergleich zur Bevölkerung teilweise um mehr als das 20-Fache erhöht, so die Yale-Forscher. Jeder zweite Insasse sei drogenabhängig.

In den Gefängnissen leiden viele Häftlinge an mehreren Krankheiten gleichzeitig

Ein ehemaliger russischer Gefangener aus der Stadt Gattschina bei Sankt Petersburg berichtete den Wissenschaftlern vom Leben in einer Strafkolonie für Tuberkulose-Infizierte: "Ich überlebte den schrecklichsten Ort, an dem ich je war. Wir waren 36 Männer in einer Kammer mit zwölf Betten. Wir standen, husteten aufeinander, während andere in Schichten schliefen." Jeder mit Tuberkulose schien zudem auch HIV zu haben, berichtete der Sträfling. "Viele von uns bezahlten mit ihrem Leben. Manche Typen erwischten eine Überdosis, andere infizierten sich mit HIV so wie ich, und die Tuberkulose erledigte den Rest von uns." Noch schlimmer als die Wärter seien die Ärzte gewesen: "Sie schickten uns einfach in unsere Schlafkammern zum Sterben zurück."

Mittlerweile gebe es Anzeichen, dass die Epidemie sich auf andere Bevölkerungsteile ausweite, sagt Pokrovsky, beispielsweise über Partnerinnen von Drogenkonsumenten. Etwa 80 bis 100 Frauen infizierten sich jeden Tag neu. Diese "Verallgemeinerung" führe nun zumindest zu einer höheren Aufmerksamkeit für die Epidemie. "Der Gesundheitsminister hat um mehr Geld für die Behandlung von HIV-Infizierten gebeten", sagt Pokrovsky. Es werde aber Jahre dauern, bis sich die Situation verbessert. Vorausgesetzt, das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verschlechtert sich nicht weiter.

"Die politische Situation ist nicht hilfreich", sagt Michel Kazatchkine. Das abgekühlte Verhältnis zum Westen habe aus Russland ein nach innen blickendes Land gemacht, das Lösungsvorschläge von außen ablehne. Allerdings unternehme auch der Westen kaum Anstrengungen, um das Leid zu lindern oder mehr Expertise ins Land zu bringen. Chris Beyrer von der IAS sagt: "Ich würde mir nichts mehr wünschen, als dass Angela Merkel dieses Thema gegenüber Wladimir Putin anspricht." Alleine scheinen die Gesundheitsexperten nicht mehr weiterzukommen. Kürzlich lud die IAS zu einer Sonderkonferenz ins ukrainische Odessa, um über die Eskalation in der Region zu sprechen. Russland schickte keinen Vertreter.

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