Politikversagen in der Schuldenkrise:Bitte endlich Ehrlichkeit

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Die Welt kommt einer zweiten Lehman-Krise ziemlich nahe - und wieder hat die Politik enormen Anteil daran. Das Misstrauen in sie ist der entscheidende Panikfaktor, besonders in Europa. Es wird Zeit, dass auch die Kanzlerin Klartext spricht.

Nikolaus Piper

Für die Panik an den Weltbörsen vom Donnerstag gibt es eine beruhigende Erklärung, und die geht ungefähr so: Es war höchste Zeit, dass etwas passierte. Die Preise, die Anleger für Aktien zahlten, hatten schon lange nichts mehr mit der Realität in den Unternehmen zu tun. Eine Korrektur war überfällig - jetzt ist sie da, wenn auch vielleicht ein wenig heftiger, als man sich das gewünscht hätte. Das Ganze ist ein reinigendes Gewitter.

Angela Merkel und Barack Obama bei einem Treffen in Washington im vergangenen Jahr. (Foto: dpa)

Die Gewitter-Theorie ist nicht einmal falsch - aber sie lässt außer Acht, dass dieses Gewitter, um im Bild zu bleiben, über einer Sprengstofffabrik niedergegangen ist. Hätten die Schutzvorkehrungen versagt und wäre der Blitz eingeschlagen - die Folgen wären unvorstellbar gewesen. Denn seit über einem Jahr fürchten sich Experten vor dem "Lehman-Moment", davor, dass sich der Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte nach der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 wiederholen könnte.

Diese Woche ist die Welt diesem Lehman-Moment sehr nahe gekommen. Mit dem Eintritt von Italien in den Kreis der gefährdeten Länder hat die europäische Schuldenkrise eine neue Dimension angenommen. Niemand traut Europas Banken zu, dass sie einen größeren Schock aushalten.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ist der künstliche Staatsbankrott der Vereinigten Staaten zwar abgewendet worden, der verrückte politische Streit in Washington um die Schuldengrenze ist aber nicht vergessen. Und nun könnte Amerika sogar in eine zweite Rezession, eine "Double-Dip Recession" rutschen. Das ist noch nicht sicher, aber allein die Gefahr macht Angst: Ohne Wachstum können die USA unmöglich ihre Schuldenprobleme lösen.

Gut drei Jahre nach dem Fall von Lehman Brothers ist die Welt noch - oder wieder - ein gefährlicher Platz. Und diesmal handelt es sich, anders als bei der Lehman-Pleite selbst, um eine sehr gut prognostizierte Krise. Die beiden amerikanischen Ökonomen Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff haben schon 2009 gezeigt, dass der Aufschwung nach einer schweren Finanzkrise notgedrungen schwach und gefährdet sein muss. Genau das ist eingetreten.

Ein tiefes Misstrauen in die Fähigkeiten der Politik

Der Finanzsektor als eigentlicher Auslöser der Krise hat die Staatshaushalte angesteckt und lähmt die Politik. Und das wirkt auf den Rest der Wirtschaft. Wegen ihrer sensationell guten Sonderkonjunktur spüren die Deutschen die prekäre Situation weniger im eigenen Land, dafür umso mehr auf dem Umweg über die europäische Schuldenkrise. Von der stärksten Volkswirtschaft der EU wird in der Krise eine Führungsrolle verlangt, die die Deutschen nicht spielen wollen, oder vielleicht auch nicht können.

Sortiert man all die Gerüchte, Ängste und Verrücktheiten an den Märkten, dann bleibt ein zentraler Panik-Faktor: ein tiefes Misstrauen in die Fähigkeit der Politik, die Probleme zu lösen. Es mag ein Widerspruch in sich sein, dass der Finanzsektor immer auf den Staat weist, wenn es ernst wird. Aber in der Sache kann es keine Zweifel geben, dass die Politik den Schlüssel zur Lösung der Krise in Händen hält. Immer wenn in Berlin, Brüssel oder Washington etwas schiefgeht, kann die Panik zurückkehren.

Einmal geht es dabei um handelnde Personen. Barack Obama sieht nach dem fragwürdigen Schuldenkompromiss in Washington erschreckend schwach aus, ein Präsident, der nicht mehr führt, sondern sich von einer wild gewordenen Opposition über den Tisch ziehen lässt.

Bilder der Kurssturz-Stunden
:Angst im Handelssaal

Ja, Panik: Es war wohl kein "schwarzer Donnerstag", aber mit Sicherheit ein verdammt dunkler: Manhattan, Frankfurt, Kuala Lumpur weltweit brachen die Aktienkurse ein. Der Absturz lässt sich nicht nur an den Tafeln überm Börsenparkett ablesen, auch die Gesichter der Händler sprechen Bände. Impressionen von den Handelsplätzen der Erde.

In Europa gibt es einen Kommissionspräsidenten, José Manuel Barroso, der die unglaubliche Tölpelei begeht, Differenzen in der EU über die Schuldenkrise per Brief öffentlich zu machen. Italien, dessen Schuldendienst bei den gegenwärtigen Zinsen untragbar ist, wird von einem Operettenfürsten regiert. Angela Merkel muss sich durchwursteln zwischen den Notwendigkeiten der Euro-Rettung, einer zunehmend unwilligen Öffentlichkeit und den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.

Und, nicht zu vergessen, Christine Lagarde: Die neue Direktorin des Internationalen Währungsfonds ist eigentlich eine Hoffnungsträgerin, doch nun hat sie es mit einem Ermittlungsverfahren wegen Amtsmissbrauchs in Frankreich zu tun. Niemand weiß, wie das ausgeht. In der eigentlichen Lehman-Krise 2008 konnte man wenigstens sagen, wer in der Verantwortung steht: der amerikanische Finanzminister und der Chef der Notenbank Federal Reserve. Heute gibt es niemand Vergleichbares.

Die allgemeine Unsicherheit lässt sich an vielen Daten ablesen. Der Goldpreis nähert sich allmählich der Marke von 1700 Dollar, Anleger flüchten in tatsächlich oder vermeintlich sichere Häfen: US-Anleihen, deutsche Bundesanleihen, Schweizer Franken und, überraschend, Papiere des hoch verschuldeten Japan. Die Notenbanken in Zürich und Tokio mussten sich schon mit Markteingriffen der ungebetenen Geldflut erwehren.

Aber letztlich geht es ja nicht um das Wohl und Wehe der Finanzmärkte. Die Börsen sind nur Indikatoren, nur Überbringer guter oder schlechter Nachrichten. Wenn sie in Panik geraten, bedeutet dies in erster Linie, dass Vertrauen zerstört wurde. Ohne Vertrauen gibt es keinen Kredit und ohne Kredit keine Lösung der Probleme der Welt.

Am dringlichsten ist, dass die Schuldenkrise in Europa endgültig eingedämmt wird. Griechenland und Italien sind die größten Gefahrenherde für die Weltwirtschaft. Die europäischen Politiker haben viel zu lange auf Zeit gespielt und das Ausmaß der Krise vor den eigenen Völkern kleingeredet. Das geht nicht mehr lange gut. Immer wenn jemand in Europa über die Spekulanten oder böse Ratingagenturen schimpft, weiß der Rest der Finanzwelt, dass man auf dem Kontinent den Ernst der Lage nicht begriffen hat. Vor allem Angela Merkel muss sich vor den Deutschen ehrlich verhalten: Ja, die Rettung der überschuldeten Euro-Partner wird viel Geld kosten. Aber die Investition lohnt sich.

Amerikas Aufgabe ist lösbar

So akut sind die Probleme der USA nicht, auch wenn Desperados in der Republikanischen Partei diesen Eindruck erwecken. Washington hat keinerlei Probleme, sein Defizit zu finanzieren. Wichtig ist es, dass das Land jetzt eine Sanierungsstrategie entwickelt, die spätestens Ende des Jahrzehnts greift. Harte Einsparungen und unpopuläre Steuererhöhungen sind dann unvermeidbar. Die Aufgabe ist lösbar, die Frage ist, ob das derzeitige System in Washington die Lösung zulässt. Sollte der Krieg um die Erhöhung der Schuldengrenze ein Vorbote der neuen Normalität Amerikas sein, dann wird die Zukunft wirklich düster.

Intellektuelle und Schöngeister kommen in solchen Situationen leicht zu dem Schluss, dass die Wirklichkeit für die Politik einfach zu komplex geworden ist. Besser wäre es zu sagen: Die Zukunft der Welt hängt davon ab, dass die Politik lernt, diese Komplexität zu beherrschen.

© SZ vom 06.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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