Salafismus:Der Mann, der Jugendliche vor religiösen Fanatikern retten will

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Koran-Verteilaktionen sind für Salafisten ein beliebtes Mittel, um an junge Menschen heranzukommen. (Foto: Getty Images)

Korhan Erdön ist Bayerns erster "Deradikalisierer". Einige seiner Klienten träumen bereits davon, in die Kampfgebiete des IS zu reisen. Erdön will sie nicht aufgeben.

Von Stefanie Schoene, München

Auch wenn Korhan Erdön das nicht gerne hört: Er ist ein Pionier. Als Bayerns erster "Deradikalisierer" fährt er seit Sommer 2014 durchs Land, um junge Migranten zu erreichen, die drauf und dran sind, mit der deutschen Gesellschaft abzuschließen. 5000 Kilometer legt er im Monat zurück, um jene religiös radikalisierten jungen Muslime und die tief schwarz verschleierten Mädchen zu treffen, die europäischer Pluralität und Freiheit nichts mehr abgewinnen können. 20 Klienten hat er jetzt, im Februar waren es noch 14.

Die jungen Leute, die er betreut, haben sich nach Erdöns Aussage einem minimalistischen Islam "neosalafistischer Prägung" zugewandt. Und das heißt: einfache Glaubensformeln, arabische Floskeln, strenge Riten sowie ein autoritäres Gottes- und Menschenbild.

Doch das allein macht sie, wie Erdön sagt, noch nicht zu Radikalen - und schon gar nicht zu "Gefährdern", die sich hier in Deutschland gewaltbereiten Netzwerken angeschlossen haben. Aber: Wenn Erdön gerufen wird, haben die jungen Leute schon eine rote Linie überschritten. Sprich: Diese Männer und Frauen haben sich abgeschottet, sind aggressiv geworden. Tendenzen zur Ausreise in die Kampfgebiete des "Islamischen Staats" in Syrien sind erkennbar.

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Erdön ist Mitarbeiter des Violence Prevention Network (VPN), eines Vereins, der bundesweit Programme zur Prävention von Rechtsextremismus, Islamismus und Salafismus sowie zur Deradikalisierung durchführt. Bisher wurde seine Stelle aus Spenden bezahlt.

Doch seit dem ersten April hat sein Arbeitgeber vom bayerischen Landeskriminalamt den Zuschlag erhalten, die neue Beratungsstelle zur Deradikalisierung salafistischer Extremisten in Bayern zu betreiben. Erdön hat jetzt noch eine Kollegin, ein weiterer Mitarbeiter wird im Mai eingestellt.

Die Jugendlichen suchen Gemeinschaft - die finden sie bei den Salafisten

Der Verein VPN ist bundesweit einer der großen Anbieter von Programmen für Prävention und Neonazi-Aussteiger. 50 Pädagogen, Psychologen, Politologen, Islamwissenschaftler und Quereinsteiger begleiten seit 2001 verurteilte oder potenzielle Straftäter der rechten und seit 2008 auch der religiös-extremistischen Szene.

Allein Geschäftsführer und Mitgründer Thomas Mücke arbeitete bislang mit mehr als 600 radikalisierten Jugendlichen. "Die Extreme ähneln sich. Charismatische Werber erklären ihnen die Welt und sagen, dass man bei solchen Verhältnissen nicht unter der warmen Bettdecke liegen könne. Die jungen Rechten gingen zu Wehrsportübungen in den Wald, die islamistischen Gewalttäter reisen nach Syrien", sagt Mücke.

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Die Extremisten verstehen es, Bruchlinien nicht nur in einzelnen Biografien, sondern auch innerhalb der Gesellschaft zu nutzen. Die Lies!-Koran-Verteilaktionen hält Mücke für eine Drehtür in die salafistische Szene: "An den Ständen werden junge Interessenten gefragt, ob sie mehr wissen wollen. Man lädt sie zu weiteren Treffen ein. Jugendliche in krisenhaften Situationen suchen nach Gemeinschaft und Erfüllung. Beides bedienen die Salafisten. Deutsche Dschihadisten und Syrien-Ausreiser hatten fast alle Kontakt zu diesen Missionsaktionen von Lies!"

Die fest angestellten Mitarbeiter des VPN werden ein Jahr lang auf ihre Aufgaben vorbereitet. Eingebettet in das bayerische Antisalafismus-Netzwerk von Innen-, Sozial-, Kultus- und Justizministerium, erhält der Verein VPN für den Betrieb der Beratungsstelle bis März 2017 zunächst 310 000 Euro. Mit Sozialarbeit sollen die drei Experten intervenieren und sogar bereits weit fortgeschrittene Radikalisierungsprozesse junger Muslime umkehren.

Das Bundesland Hessen, dessen Verfassungsschutz die Anzahl der Salafisten im Land auf 1200 beziffert, gilt in Sachen Prävention bundesweit als Vorreiter. Noch bevor der "Islamische Staat" 2014 auf den Plan trat, organisierte Hessen erste Programme.

"Das Budget für unsere Präventions- und Interventionsarbeit dort umfasste erst 400 000 Euro, in diesem Jahr wurde es auf 1,2 Millionen Euro angehoben", sagt Mücke. Die Mitarbeiterzahl im VPN stieg hier von vier auf fünfzehn, die insgesamt 89 extremistische Jugendliche, darunter auch Syrienrückkehrer, pädagogisch und psychologisch begleiten.

Über seine Klienten in Bayern spricht Korhan Erdön natürlich nicht. Er sagt dann nur so viel: Er wird gerufen, wenn es brennt, wenn Jugendliche sich plötzlich nicht nur "islamisch korrekt" kleiden, sondern ihre religiösen Überzeugungen mit steigender Aggressivität vorbringen.

Mücke erklärt, wie der Zugang zu den Jugendlichen funktioniert: "Bei salafistischen Extremisten ist es gut, wenn die Betreuer auch einen muslimischen Hintergrund haben. Sie können leichter eine Beziehung aufbauen." Wichtig ist: "Konfrontation, erhobene Zeigefinger und Demütigungen sind tabu."

Während der Verein VPN in anderen Bundesländern zusätzlich Präventionsaufgaben in Schulen und Jugendeinrichtungen übernimmt, ist in Bayern Arbeitsteilung vereinbart. Vorbeugende Bildungsarbeit im Vorfeld religiöser Radikalisierung ist mit einem Projekt des Sozialministeriums abgedeckt. Ufuq.de, ein 2006 in Berlin gegründeter Träger der freien Jugendhilfe, füllt das Projekt seit dem letzten Herbst in Augsburg mit Leben.

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Dass beide Mitarbeiter zum März wieder kündigten, zeigt die Kehrseite solch befristeter Modellprojekte. Dabei zeigt die Statistik der "Beratungsstelle Radikalisierung" des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf): Der Bedarf steigt. Die Bamf-Hotline besteht seit 2012. 32 Mitarbeiter, die hier in sieben Sprachen telefonisch beraten, erhielten bis zum ersten April 2300 Anrufe - vor allem aus Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg, Berlin, Baden-Württemberg und Bayern.

Von diesen leitete das Bamf 950 Anrufer als Beratungsfälle an die Bundesländer und die dortigen Kooperationspartner weiter. Bis Dezember letzten Jahres waren es noch 2000 Anrufe, aus denen sich 800 Betreuungen ergaben.

Die betroffenen Jugendlichen sind im Durchschnitt 18 Jahre alt, Tendenz sinkend. Ein Viertel von ihnen sind Mädchen und junge Frauen. Etwa die Hälfte aller Klienten hat einen Migrationshintergrund, rund 65 Prozent sind Konvertiten. Bei 20 Prozent der 800 Klienten war die Radikalisierung weit fortgeschritten: Sie planten die Ausreise nach Syrien oder waren bereits beim IS. Nur 15 Prozent der Beratungsfälle gelten als abgeschlossen.

Thomas Mücke erwartet für Bayern eine ähnliche Entwicklung wie in Hessen. Seit den dschihadistischen Attentaten im letzten Jahr gibt es einen Bewusstseinswandel. "Die Bundesländer übernehmen heutzutage deutlich mehr Verantwortung", sagt er. Dann fügt er hinzu: "Für eine langfristige Extremismusbekämpfung dürfen wir junge Menschen niemals aufgeben."

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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