"Herbstmilch"-Autorin Anna Wimscheider:"Da muas ich mich ja schämen!"

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Dana Vavrova spielte Anna Wimschneider, die während der Kriegsjahre den Hof alleine bewirtschaften musste. (Foto: ZDF)

Die Bäuerin Anna Wimscheider schrieb mit dem autobiografischen Roman "Herbstmilch" einst Literaturgeschichte. Ihr Nachlass ist ein Stück deutscher Zeitgeschichte - und verrät, dass die Autorin die Veröffentlichung fast verhindert hätte.

Von Hans Kratzer

Jetzt darf ich schlafen, so lange ich mag." Dieser berührende Satz steht über der Todesanzeige der Anna Wimschneider, die vor 25 Jahren, am 1. Januar 1993, nach einem Schlaganfall im Pfarrkirchener Krankenhaus gestorben ist. Tatsächlich hatte die bescheidene Bäuerin, die 73 Jahre alt wurde, einen Großteil ihres Lebens vom Ausschlafen geträumt.

Auf dem Hof ihrer Eltern im niederbayerischen Rottal hatte sie schon als kleines Mädchen Fron und harte Arbeit erlebt: "Früher bin i so müd gwesn, des kann sich überhaupt koana vorstellen, wia ich müd war. Und dann hab i no Asthma ghabt, bin so schlecht beinand gwesn, mein Gott, is des a harte Zeit gwesn." So schilderte sie selber ihre existenzielle Bedrückung, die sich später auf dem ebenfalls im Rottal gelegenen Hof ihres Mannes nahtlos fortsetzen sollte.

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Als sie 65 Jahre alt war, erlebte Anna Wimschneider einen unerwarteten Wendepunkt in ihrem Leben. Nach der Veröffentlichung ihrer Erinnerungen wurde sie schlagartig populär, letztlich sollte sie mit ihrem ursprünglich nur für ihre Familie geschriebenen Werk sogar in die deutsche Literaturgeschichte eingehen.

Anna Wimschneiders Lebensgeschichte, die sie auf Verlangen ihrer Töchter aufschrieb, erhielt den Titel "Herbstmilch" und stand in den Buchläden auf einer Höhe mit Bestsellern wie Umberto Ecos "Name der Rose" und Michael Endes "Unendlicher Geschichte".

Das Leben der Anna Wimschneider wurde zu einem exemplarischen Fixpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und sie wurde zum Sprachrohr und zur Symbolfigur all jener Menschen, die dieses beinharte kleinbäuerliche Leben mit all seiner Brutalität vor seinem Untergang noch am eigenen Leib erdulden mussten.

Anna Wimschneider wurde am 16. Juni 1919 in Pfarrkirchen geboren und starb dort am 1. Januar 1993. (Foto: DPA-SZ)

25 Jahre nach ihrem Tod ist Anna Wimschneider den jüngeren Generationen nicht mehr geläufig - trotz ihres überwältigenden literarischen Erfolgs. Immerhin besteht nun die Chance, dieses Leben nicht mehr nur literarisch, sondern auch wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Die Erbengemeinschaft hat vor wenigen Tagen den umfangreichen Nachlass der Anna Wimschneider der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) geschenkt, darunter das in zwei Schulheften festgehaltene handschriftliche Manuskript des autobiografischen Romans "Herbstmilch", das sie in der Küche ihres Bauernhofs in vierwöchiger Arbeit in deutscher Schreibschrift verfasst hatte.

Es ist das Herzstück des Erbes, das sechs große, thematisch geordnete Schachteln umfasst. Anna Wimschneider und ihr Mann Albert hatten alle mit dem Romanerfolg zusammenhängende Ereignisse penibel dokumentiert, nichts wurde weggeworfen.

Die Schachteln, deren Inhalt nun in der Staatsbibliothek bearbeitet wird, enthalten die von Wimschneider gesammelten Briefe, Leserbriefe, Presseartikel, Fotografien und Urkunden sowie Auszeichnungen wie das Bundesverdienstkreuz am Bande und den Poetentaler. Auch die Korrespondenz mit dem Piper-Verlag ist darin enthalten sowie die Videos und Tonkassetten ihrer öffentlichen Auftritte in Funk und Fernsehen.

Dazu Fach- und Seminararbeiten, die sich dem Roman "Herbstmilch" widmeten, sowie die säuberlich geführten Alben, in denen das Paar alle Besuche in Wort und Bild dokumentierte. Aus ihnen geht hervor, dass sich Besucher aus ganz Deutschland bei den Wimschneiders im Weiler Schwarzenstein eingefunden hatten und herzlich empfangen wurden.

Klaus Ceynowa, der Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, sagt, Leben und Werk Anna Wimschneiders stünden beispielhaft für eine ganze Generation im ländlichen Raum. Ihren Nachlass bezeichnet er deshalb als "ein Stück deutscher Zeitgeschichte".

Der Roman "Herbstmilch" wurde sogar ins Japanische übersetzt und war als Film ein großer Erfolg. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

Freilich wäre die Geschichte nur in der Familie geblieben, wäre das Manuskript nicht durch Zufall und über mehrere Ecken zum Piper-Verlag gelangt. Dort erkannte man das Potenzial des Textes sofort. Es war allerdings nicht einfach, Anna Wimschneider für ein Buchprojekt zu begeistern. Auf den Brief, in dem ihr der Piper-Verlag seine Absichten eröffnete, reagierte sie abwehrend:

"Nie! Was sagen denn da die Leut? Da muas ich mich ja schämen! Und wer soll denn sowas lesen? I bin doch nur fünf und a halbs Jahr in d'Schul ganga." Erst die Beschwichtigung, das Buch werde in Niederbayern und in Wimschneiders Nachbarschaft sowieso keiner lesen, habe ihre Mutter umgestimmt, sagt Carola Wimschneider, die älteste Tochter.

Anna Wimschneider ließ sich sogar überreden, auch kritische Passagen über Kirche und Pfarrer im Text zu belassen. "Unsere Mutter hat ja nie über Sexualität gesprochen. Und in ihrem Buch hat sie darüber geschrieben."

Die Autorin Katharina Meschkowski hat das Manuskript damals für den Piper Verlag bearbeitet. Liest man ein wenig in die eng beschriebenen Hefte hinein und vergleicht die Passagen mit jenen, die dann veröffentlicht wurden, so fallen die Unterschiede deutlich auf. "Das ist ein wirklich anderer Text", hat auch Maximilian Schreiber von der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek festgestellt. Passagen wurden zum Teil stark umgeschrieben, der Sprachduktus wurde geändert.

Unabhängig davon war es harter Tobak, den Anna Wimschneider ihrer Leserschaft servierte. Aber gerade die Authentizität des Geschilderten fern aller Klischees begründete den Erfolg des Buches als auch seine Bedeutung. Die Generation, die noch die Zumutungen der alten Agrargesellschaft "genossen" hatte, fühlte sich von Wimschneider besonders angesprochen. Für die jüngere Generation war es bereits in den 1980er-Jahren eine fremde Welt, die ihnen in dem Buch begegnete.

Dies zeigte schon der Titel "Herbstmilch", der freilich gekünstelt klingt. "Hirgstmilli" sagte man im Rottal zu dieser sauren Milch, die auf den Höfen fast täglich mit Mehl und Salz verkocht und mit Brot und Erdäpfeln als Standardmahl gereicht wurde. Es bildete die bescheidene Grundlage für arbeitsreiche Tage, die lange vor dem Morgengrauen begannen und sich bis in die Nacht hinein hinzogen. Feldarbeit, Stallarbeit und Hausarbeit gaben pausenlos den Takt vor.

Nach dem Tod der Mutter im Kindbett wurde auch die achtjährige Anna in dieses Schema gepresst. "Und wenn sich's Dirndl nichts merkt, dann haust du ihr eine runter, da merkt sie es sich am schnellsten", das trug der Vater der Nachbarin auf, die Anna in die Hausarbeit einweisen musste.

Im Krieg musste sie dann den Hof ihres Mannes bewirtschaften. Elf Tage nach der Hochzeit zog der ins Feld und wurde schwer verwundet. Mit zwei pflegebedürftigen Onkeln, einer Tante, einer bitterbösen Schwiegermutter, die ihr das Leben von Anfang an zur Hölle machte, und einem Haufen harter Männerarbeit kämpfte Anna für das Überleben.

Dass diese Lebensgeschichte überhaupt jemanden interessieren könnte, das konnte sich Anna Wimschneider partout nicht vorstellen. In einem BR-Interview sagte sie: "Dass des amal so an Anklang findet, dass sovui verkaufen können, des kann i ned verstehn." Aber bald erfuhr sie den Grund von ihren Lesern: "Viele ham mich angerufen und gsagt, oiso, da seh ich direkt unser Leben auch."

Dass die Stoanerin, wie Anna Wimschneider im Heimatort Schwarzenstein bei Pfarrkirchen genannt wurde, plötzlich berühmt war, Lesungen hielt, Autogramme schrieb, Interviews gab und mit Thomas Gottschalk im Fernsehen plauderte, das gefiel nicht allen. Auch Neid hatte sie zu ertragen.

Verändert habe sie sich durch den Erfolg aber nicht, das hielt man ihr zugute. "Und genau so war's, wie es da drin steht", sagte eine Nachbarin, die sich darüber mokierte, dass immer von der guten alten Zeit geredet werde. "Keinen Strom hat man ghabt, keine Küchenmaschine, kein Radio, keinen Fernseher, nix hats gebn, des war a harte Zeit."

Wimschneiders Los sei ja gar nichts gewesen gegen das ihrer Schwiegermutter, sagte eine andere Nachbarin im Radio. "Was die mitgemacht hat. Sie hat vier Kindern und zwei Männern ins Grab schauen müssen. Und was die alles erlebt hat dazwischen. Des is da Wahnsinn. Da denkt ma sich, wie eine Frau des überhaupt aushalten kann."

Letztlich ist der Leser am Ende zusammen mit Anna Wimschneider froh, dieser Zeit entronnen zu sein: "Wenn ich noch einmal zur Welt käme, eine Bäuerin würde ich nicht mehr werden", lautet der Schlusssatz des Romans "Herbstmilch".

© SZ vom 30.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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