Biologie:Die Schrulle der Evolution

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Nacktmulle bekommen nie Krebs und überstehen schwere Verletzungen. (Foto: Imago, Getty; Illustration: Stefan Dimitrov)

An Nacktmullen wird geforscht, wie man gesund altern könnte. Zu Besuch bei Tieren, die ebenso hässlich wie faszinierend sind.

Von Christoph Behrens

Trieben Tiere Mannschaftssport, ein Nacktmull würde wohl als letzter ins Team gewählt. Der Kopf ist kahl, die Haut hängt faltig vom haarlosen, wenige Zentimeter langen Leib. Aus dem Mund ragen zwei krumme Zähne. Die Augen liegen vergraben im Schädel und sehen nur starke Kontraste einigermaßen gut. Seine Ohren sind verkümmert, und mit den tapsigen Beinen schießt der Mull sicher kein Tor. Doch so unsportlich und ältlich sie aussehen mögen - ausgerechnet Nacktmulle könnten das Geheimnis dauerhafter Gesundheit und ewiger Jugend in sich tra- gen.

"Nacktmulle sind für mich die Ikonen des gesunden Alterns", sagt Thomas Hildebrandt. Der Biologe steht im Keller des Berliner Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) und inspiziert eine seiner zwölf Nacktmullkolonien. Der künstliche Bau ist ein Sammelsurium zylinderförmiger Plastikbehälter, die mit durchsichtigen Röhren miteinander verbunden sind. Wärmestrahler halten den Bau konstant auf einer Temperatur von 32 Grad Celsius. An der Scheibe pappt ein Zettel mit dem Namen der Kolonie: Mullorca.

Vor Schreck packt eines der größeren Tiere ein Neugeborenes und bringt es in Sicherheit

Im Inneren geht es geschäftig zu. Durch die Röhren tapsen ständig Mulle zwischen den Gehäusen hin und her, weichen Gegenverkehr seitlich aus, manche trampeln übereinander hinweg. Einige transportieren mit ihren Zähnen Holzspäne, um sie als Baumaterial zu verwenden, oder tragen Süßkartoffelstückchen in eine der Vorratskammern. Wer gerade nichts zu tun hat, legt sich zum Kuscheln in einen Gemeinschaftsraum, wo ein paar Dutzend Mulle sich zu einem wärmenden Haufen verklumpt haben. Als Hildebrandt den Deckel des belebten Raums anhebt, fiepen die Mulle vielstimmig, als würden sie sich über die Störung ereifern. Vor Schreck packt eins der größeren Tiere, etwa zehn Zentimeter Gesamtlänge, mit seinen Hauern ein Neugeborenes und trägt es davon, weg vom Eindringling.

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Nachwuchspflege ist hier Gruppenaufgabe, denn anfangs sind die Winzlinge sehr verwundbar. "Aber wenn ein Nacktmull die ersten Monate überlebt, hat er gute Chancen, richtig alt zu werden", sagt Hildebrandt. Er schätzt, dass die ältesten Tiere hier seit 27 Jahren leben. Für eine normale Labormaus sind bereits vier Jahre ein biblisches Alter.

Doch dann vergingen die Jahre und die Labor-Mulle weigerten sich, einfach zu sterben

Doch es ist nicht die Lebenserwartung an sich, die Nacktmulle besonders macht, sondern eher die Art und Weise, wie sie altern. Eine Labormaus etwa vergreist ähnlich wie der Mensch: Die Haare verfärben grau und fallen aus, das Risiko für Tumore steigt stetig. Die Nager werden vergesslich, sogar dement. Dagegen ist ein alter Nacktmull von einem jungen äußerlich kaum zu unterscheiden. Vor allem aber bekommen Nacktmulle so gut wie nie Krebs - diese enorme Resistenz gegenüber Tumoren ist unter Säugetieren einzigartig, und macht die Art für die Altersforschung besonders interessant.

Lange ahnte man nichts von der besonders ausgeprägten Rüstigkeit der Nacktmulle. Als Biologen in den 1980er-Jahren die ersten Tiere aus ihren Höhlen in Ostafrika einfingen und in Laboren nachzüchteten, schienen sie vor allem kurios zu sein, fast gebrechlich, eine Schrulle der Natur. Aus evolutionsbiologischer Sicht spannend, medizinisch aber bedeutungslos. Doch die Jahre vergingen und viele der Mulle weigerten sich einfach zu sterben. Wann für sie spätestens Schluss ist, weiß man immer noch nicht. Einige der ersten gefangenen Mulle leben noch heute, mit fast 40 Jahren.

Im Labor von Hildebrandt hängt ein Plakat, das die Sterblichkeit der Nacktmulle über die Jahre zeigt. Bei fast allen Säugetieren geht eine solche Kurve irgendwann steil nach oben. Ganz gleich, wie gut man sie hegt, ab einem gewissen Alter nimmt die Mortalität bei den meisten Arten exponentiell zu. Fachleute nennen diesen Effekt Gompertz-Makeham-Gesetz. Doch bei den Nacktmullen bleibt die Sterblichkeit über die Jahre einfach gleich niedrig, was die üblichen Formeln auf den Kopf stellt. Das ist umso überraschender, weil Nacktmulle kleine Tiere sind. In der Natur gilt meist: Je kleiner, umso kürzer das Leben.

Doch Nacktmulle leben eben besonders. In der Natur sind sie nur in Ostafrika zu finden, in den trockenen Steppen im Norden Kenias, in Somalia und Äthiopien. Bis zu 300 Tiere leben unterirdisch in einer Kolonie, wühlen sich mit ihren Zähnen durch das Erdreich und graben so kilometerlange Höhlen. Tageslicht sehen die nicht mit Maulwürfen verwandten Halbwüstenbewohner nur, wenn sie das abgetragene Erdreich durch vulkanartige Kegel nach oben werfen. Die rein unterirdische Lebensweise ist seltsam genug, noch seltsamer ist das Zusammenleben der Nacktmulle: Ein einzelnes Tier, die Königin, dominiert die Kolonie. Nur sie bekommt etwa alle 90 Tage Nachwuchs, alle anderen Weibchen sind unfruchtbar.

Damit sind Nacktmulle die einzigen Säugetiere, die wie Insekten organisiert sind - ein Superorganismus, vergleichbar mit einem Bienenvolk oder Ameisenstaat, gesteuert von einer Königin an der Spitze und etlichen Untertanen, die verschiedenen Aufgaben nachgehen. Manche der niederen Mulle ziehen den Nachwuchs auf, andere erweitern als Bautrupps die Tunnelsysteme, auf der Suche nach Knollen und Wurzeln, von denen die Mulle sich am liebsten ernähren. Kräftiger gebaute Tiere bewachen die Grenzen des Baus und wehren Feinde wie Schlangen ab. Aus dieser Kaste von Soldaten wählt sich die Königin auch mit Vorliebe ihre bis zu drei Liebhaber.

Hildebrandt zeigt auf die Königin, die über die Kolonie "Mullorca" herrscht. Die Anführerin erkennt man schnell: Sie ist deutlich größer und länglicher als die anderen, denn sie bringt manchmal mehr als 20 Junge auf einmal zur Welt. Vor allem aber macht sie jedem klar, wer die Chefin ist. Wenn die Königin im Tunnel einem anderen Mull über den Weg läuft, latscht sie einfach über ihn drüber. Wer auf wem herumtrampeln darf, zeigt die Rangordnung innerhalb der Kolonie an. Vermutlich trägt die starre Hierarchie auch zur Langlebigkeit der Mulle bei. Eine Kolonie ist nur dann stabil, wenn die Königin gesund ist. Zeigt sie Schwäche, kommt es zu einer Art Palastrevolution: Ein anderes Weibchen wittert dann seine Chance und fordert die Königin zu einem Kampf auf Leben und Tod um den Chefposten heraus. Für die Kolonie sind solche Tumulte aber meist schlecht, im schlimmsten Fall weitet sich die Palastrevolution zum unterirdischen Bürgerkrieg aus. Daher ist es evolutionär wohl sinnvoll, wenn die Tiere lange leben und die Hackordnung klar bleibt.

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"Altern ist eigentlich ein Motor der Evolution. Hier nicht", sagt Hildebrandt. Altert ein Tier schnell, so bleibt ihm nur wenig Zeit, sich fortzupflanzen. Für eine Spezies als Ganzes kann ein kurzer Abstand zwischen den Generationen aber vorteilhaft sein, so kann sich eine Art schnell neuen Umweltbedingungen anpassen. Doch für die Nacktmulle ist das offenbar nicht so entscheidend. Seit vielen Millionen Jahren hat sich das Klima in Ostafrika und die Lebensweise der Nacktmulle praktisch kaum geändert. Die Tiere seien einfach schon perfekt an ihre Umwelt angepasst, meint Hildebrandt. "Es braucht sich nichts verändern, weil einfach alles immer gleich ist." Die Evolution sei bei den Nacktmullen zwar nicht gestoppt, "aber definitiv verlangsamt".

Das erklärt zwar vielleicht, warum die Nacktmulle so alt werden - aber noch nicht, wie sie das biologisch geschafft haben. Am IZW in Berlin versucht man, diesem Rätsel mit modernster Technik auf die Spur zu kommen. Im Raum neben den Nacktmullkolonien ist eine große silberne Röhre aufgebaut, einer der modernsten Computertomografen, die derzeit zu haben sind. Der Ring ist so breit, dass ein Nacktmull gerade der Länge nach draufpasst - so können die Forscher die Nager mit einer extrem hohen Auflösung durchleuchten.

Was die Forscher im Inneren der Tiere gesehen haben, deutet auf einen bemerkenswerten Umgang mit Verletzungen hin. Wenn die Tiere gegeneinander kämpfen, können sie sich zwar übel verstümmeln, manchen fehlt danach das halbe Schulterblatt. Doch die Röntgenbilder zeigen auch, dass die Tiere den Verlust gut kompensieren können, indem einfach mehr Muskelmasse um den Knochen nachwächst.

Manchmal greifen die Biologen auch zum Skalpell, um einen Nacktmull zu retten. Nach einem schweren Kampf mit einer Konkurrentin hatte eine Königin vor Kurzem große Teile ihres Hüftgelenks eingebüßt, ein riesiger Abszess bildete sich. "Wir haben uns gefragt, ob sie je wieder laufen kann", erzählt Susanne Holtze, die am IZW zur Biologie der Tiere forscht. "Ich war für Euthanasie." Doch die Forscher entleerten den Abszess einfach immer wieder. Am Ende hatte das Tier ein Viertel des eigenen Körpergewichts in Eiter umgewandelt, und die Wunde verheilte.

"Unvorstellbar, solche Abszesse würde kein anderes Tier überstehen", sagt Holtze. "Aber sie hat's überlebt und ist wieder Königin." Offenbar reagiere das Immunsystem der Tiere sehr stark, etwa auf Entzündungen nach einem Biss. Auch die Resistenz gegenüber Tumoren könnte das starke Immunsystem der Nacktmulle teilweise erklären. Offenbar schafft es die Immunabwehr, Krebszellen viel gezielter auszuschalten als bei anderen Arten. Im Fachmagazin Nature äußerte deshalb ein US-Forscherteam die Vermutung, dass Hyaluron-Säure im Stoffwechsel des Nacktmulls eine besondere Rolle spielt, um das Wachstum von Tumoren frühzeitig auszubremsen. Andere Forscher vermuten, dass es mit der unterirdischen Lebensweise zu tun hat. Möglicherweise schützt der Bau die Tiere vor der radioaktiven Strahlung aus Granitgestein. "Die ultimative Antwort ist noch nicht da", sagt Hildebrandt. "Aber dass der Nacktmull Geheimnisse hat, bestreitet keiner."

Diese Geheimnisse könnten auch für den Menschen von großem Nutzen sein. Vergangenes Jahr zeigte der Molekularbiologe Gary Lewin im Fachmagazin Science, dass Nacktmulle bis zu 18 Minuten ohne Sauerstoff überleben können. "Das Gehirn schaltet sich aus, das Herz schlägt ganz langsam", sagt Lewin, der am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin an Nacktmullen forscht. "Und wenn der Sauerstoff zurückkommt, wachen sie einfach auf."

Lewins Arbeitsgruppe konnte nachweisen, dass Nacktmulle ihren Stoffwechsel kurzfristig von Glucose - dem üblichen Brennstoff der Zellen - auf Fructose umstellen können. Offenbar schöpfen die Nagetiere bei Sauerstoffmangel aus einem Notfalldepot Fruchtzucker, mit dem die Zellen improvisiert weiter funktionieren. "Sauerstoffmangel ist in der Medizin ein Riesenproblem", sagt Lewin. Werden Herzzellen zu wenig mit Sauerstoff versorgt, etwa nach einem Infarkt, zieht das bei Betroffenen häufig dauerhafte Schäden nach sich.

Ob der Trick der Nacktmulle sich so einfach übertragen lässt, ist allerdings eine andere Frage. Aus Maus-Experimenten weiß man zumindest, dass auch andere Säugetiere prinzipiell auf Fructose umschalten können - allerdings nicht so lange wie der Nacktmull. Der habe diese Fähigkeit wohl im Laufe von Millionen Jahren weiterentwickelt, vermutet Lewin, weil in den unterirdischen Höhlen häufiger mal die Luft knapp wird - etwa wenn oben gerade ein Elefant herumtrampelt und die Eingänge verschüttet.

"Die Evolution nimmt Sachen, die vorher schon da sind, und weitet sie aus." Gary Lewin möchte nun Blutproben von Extremtauchern untersuchen, um herauszufinden, ob auch sie möglicherweise ihren Stoffwechsel schon auf Fructose trainiert haben. Umgekehrt haben Nacktmulle auch vieles abgeschafft, was sie im Untergrund nicht brauchen, Haare zum Beispiel oder scharfe Augen. Auch Schmerzen scheinen ihnen kaum etwas auszumachen.

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Ein nächster Schritt, um den Nacktmull zu kopieren, wäre der Einsatz von Gentechnik. Lewins Team arbeitet deshalb gezielt daran, die Gene zu identifizieren, die dem Nacktmull seine erstaunlichen Fähigkeiten verleihen. Prinzipiell wäre es möglich, diese DNA-Abschnitte auf andere Tiere wie Mäuse zu übertragen, um die Eigenschaften näher zu studieren. Umgekehrt könnte man versuchen, die Genabschnitte bei Nacktmullen auszuschalten oder zu verändern und zu beobachten, wie sich das auswirkt.

Einen genmanipulierten Nacktmull herzustellen ist jedoch schwierig. "Wenn man das Erbgut ändern will, muss man an die Königin ran", sagt Lewin. Denn nur die Königin pflanzt sich fort, eine Genveränderung würde sich also nur bei ihr auf die ganze Kolonie auswirken. Doch Königinnen sind kostbar, jedes Labor hat nur eine Handvoll von ihnen. Geht etwas bei so einem Experiment schief, würde das die Forschung gefährden. Zudem sind die genauen Stoffwechselwege noch kaum verstanden.

Es hat seinen Grund, wieso in den Kellern von Google Tausende Nacktmulle wuseln

Möglicherweise werden die Gene der Nacktmulle aber schon intensiver studiert als öffentlich bekannt. "90 Prozent aller Nacktmulle gehören Google", sagt Lewin. Eine Pionierin der Nacktmull-Forschung, Rochelle Buffenstein, wechselte vor einigen Jahren von der University of Texas zur Google-Tochterfirma Calico. Das Unternehmen hat sich zum Ziel gesetzt, das menschliche Altern zu besiegen oder zumindest zu verlangsamen. Ihre Nacktmulle nahm Buffenstein mit, seither rätseln ehemalige Kollegen, an was sie genau arbeitet. Ein Großteil ihrer Arbeit findet nun im Geheimen statt. Zumindest muss das Unterfangen ziemlich groß sein.

Vor Kurzem veröffentlichte Buffensteins Team im Fachblatt eLife die bislang umfangreichste Studie zur Lebenserwartung von Nacktmullen. Darin zeigen die Calico-Forscher, dass das Sterberisiko der Nacktmulle nicht mehr ansteigt, sobald sie ausgewachsen sind. Ein junger Nacktmull lebt also genauso gefährlich wie ein alter. Um das zu zeigen, hatten die Forscher die Lebensläufe von insgesamt 3848 Nacktmullen betrachtet. In den Kellern von Google scheint es also ziemlich wuselig zuzugehen.

Thomas Hildebrandt kann das Interesse an den Nacktmullen nachvollziehen: "Die kleinen Kerlchen haben Lösungen für viele Mysterien, mit denen wir uns rumschlagen." Zugleich versteht er die Nacktmulle als Mahnung, die Artenvielfalt auf der Erde zu erhalten. Vermutlich gebe es unzählige weitere Arten mit erstaunlichen Eigenschaften, von denen man noch nichts wisse. Und wenn der Nacktmull eins lehrt, dann, dass man sich nie nur auf den ersten Eindruck verlassen sollte.

© SZ vom 07.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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