Wissenschaftsfreiheit:Kontroversen gesucht

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"Black Lives Matter"-Demonstranten in London engagieren sich gegen Rassismus. Manche soziale Bewegungen setzen aber die Wissenschaft unter Druck. (Foto: Belinda Jiao/imago images/ZUMA Wire)

In einem neuen Wissenschaftsmagazin sollen Ideen diskutiert werden, die an vielen Universitäten keinen Platz mehr finden. Das ist erfreulich und bedenklich zugleich.

Kommentar von Christian Weber

Es ist ein erfreuliches und ein bedenkliches Ereignis zugleich: Gerade ist in den USA die erste Ausgabe des Journals of Controversial Ideas erschienen, in dem laut Editorial "sorgfältig, rigoros und unpolemisch" Themen diskutiert werden sollen, die viele Menschen für "moralisch, sozial oder ideologisch anstößig oder beleidigend halten". Herausgegeben wird es unter anderem vom australischen, an der Princeton University lehrenden Moralphilosophen Peter Singer, der selber regelmäßig heftige Kontroversen auslöst.

Erfreulich ist das neue Open-Access-Wissenschaftsmagazin, weil es frischen Wind in eine akademische Landschaft bringt, die gerade an den angelsächsischen Elite-Universitäten von einer eifernden Cancel Culture geplagt wird, der es um ideologische Korrektheit statt sachliche Wahrheit geht. Bedenklich an der Publikation ist, dass sie überhaupt notwendig ist. Denn sollte es nicht selbstverständlich sein, dass in der Wissenschaft kontroverse Ideen diskutiert werden?

Mut zeigen die Herausgeber des Journals, weil sie sich vor keinem Thema drücken

Dass es das nicht mehr ist, zeigt die Publikationskarriere eines der Beiträge. In diesem denkt Bouke de Vries von der Universität Umeå überaus differenziert darüber nach, ob es tatsächlich immer verwerflich ist, wenn weiße Menschen sich ihr Gesicht schwarz anmalen. Der Aufsatz war bereits von den Gutachtern einer Fachzeitschrift angenommen worden, nach dem Start der "Black Lives Matter"-Bewegung aber wieder abgelehnt worden. Akademische Feigheit.

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Mut zeigen die Herausgeber des Journals, weil sie sich vor keinem Thema drücken, dabei in keiner politischen Ecke verorten lassen: Da rechtfertigt ein Autor die Militanz von Tierrechtsaktivisten, ein anderer fragt, ob man Straftäter in ein künstliches Koma setzen sollte, statt sie ewig einzusperren. Ein weiterer plädiert für kollektive Depression angesichts unseres sinnlosen Lebens.

Schön ist der neue Begriff "kognitive Kreationisten" für Menschen, die bestreiten, dass Gene sich auf die Intelligenz auswirken. Sie ignorierten wissenschaftliche Daten auf die gleiche Weise wie bibelgläubige Kreationisten, die behaupten, die Erde sei erst vor einigen Tausend Jahren entstanden. Und auch den ganz heißen Eisen geht das Journal nach, etwa mit der Frage: "Are Women Adult Human Females?" Dabei leben die Aufsätze nicht allein von der Provokation, sondern von der Originalität und Tiefe der Argumentation. Man muss nicht jeder steilen These zustimmen, profitiert dennoch von der Lektüre. Sie regt das Denken an.

Schade nur, dass drei Autoren von der beim Journal of Controversial Ideas angebotenen Möglichkeit Gebrauch machen, unter Pseudonym zu publizieren. Es ist ein weiterer Hinweis, dass offene Diskussionsforen dringend notwendig sind.

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