So kam Keays zu anderen Schlüssen als seine Frankfurter Kollegen. Nicht nur identifizierte er die vermeintlichen Nervenzellen als Makrophagen. Diese weißen Blutzellen helfen, den Körper gegen Infektion zu verteidigen und das Eisen aus den roten Blutkörperchen zurückzugewinnen. Anders als Nervenzellen sind sie aber nicht elektrisch erregbar und können deshalb auch nicht als magnetische Sinneszelle dienen.
Wie orientieren sich Brieftauben, wenn sie von Orten aus heimfliegen, die ihnen unbekannt sind - manchmal über Strecken von mehr als 1000 Kilometer?
(Foto: Keays, et al.)Auch weitere Strukturen innerhalb der umstrittenen Zellen interpretierte das Team anders, als es der bislang üblichen Deutung entspricht. Was bisher als Membran-umhülltes Bläschen galt, ist Keays zufolge ein Zellkern. Einen solchen aber dürfte es in den Zellen nicht geben, sollte es sich tatsächlich, wie bislang angenommen, um Dendriten handeln, also Ausläufer von Nervenzellen.
Als weiteres Argument für ihre überraschende These führen die Autoren an, dass sie die umstrittenen Eisenoxidstrukturen nicht nur an den sechs Stellen im oberen Teil des Schnabels gefunden haben, an denen sie sich der bisherigen Theorie zufolge befinden - und zwar bei jedem Tier an der gleichen Stelle. Vielmehr gebe es diese Strukturen auch in anderen Teilen des Taubenkörpers, etwa im Atemtrakt und der Haut, schreibt Keays. Und selbst im Schnabel variiere ihre Position erheblich. Auch dies spreche dagegen, dass diese Eisenoxid-Partikel als Magnetfeld-Sensoren dienten. Keays zieht ein eindeutiges Fazit: "Wir glauben zwar, dass es solche Sensoren gibt - nur sind sie noch nicht entdeckt."
Dieser Auffassung hat sich inzwischen auch Henrik Mouritsen von der Universität Oldenburg angeschlossen. In der heftig geführten Debatte vertritt der Biologe eine besonnene Haltung. Als Mouritsen vor einem Jahr auf einer Konferenz zum ersten Mal von Keays Arbeiten hörte, war er noch skeptisch. Dann untersuchte er selbst die Gewebeproben, auf die sich die Nature-Studie stützt. "Danach wusste ich: Das müssen wir ernst nehmen, das erschüttert eine unserer Grundannahmen", sagt Mouritsen. "Die Beweislast liegt jetzt bei denen, die die umstrittenen Strukturen immer noch für Magnetfeld-Sensoren halten." Keays und seine Kollegen hätten sehr sorgfältig gearbeitet. "Wenn man eine weithin akzeptierte Meinung widerlegen will, braucht man umso überzeugendere Argumente", sagt Mouritsen. "Und die liefern die Autoren in ihrer Studie."
Das bedeutet eine Menge neuer Arbeit für die Taubenforscher. "Ich glaube immer noch, dass irgendwo im Schnabel Magnetfeld-Sensoren sind. Aber die Suche nach ihnen fängt jetzt wieder von vorn an", sagt Mouritsen. "Das wirft das ganze Forschungsfeld mindestens um zehn Jahre zurück."