Was haben Brieftaube, Rotkehlchen und Haushuhn gemeinsam? Jahrelang waren sich Biologen über eine Antwort einig: Im Schnabel aller drei Vögel befänden sich Nervenzellen, die magnetische Eisenmineralien enthielten, meinten sie. Mit den Spezialneuronen könnten die Tiere das Magnetfeld der Erde wahrnehmen und sich an ihm orientieren. Dass Tauben, Rotkehlchen und andere Vögel sicher über Tausende Kilometer navigieren, ließ sich damit plausibel erklären.
Doch dann blickte eine Forschergruppe um David Keays von der Universität Wien nochmals fast 200 Tauben genau in die Schnäbel. Und sie machte eine überraschende Beobachtung: Die eisenmineralhaltigen Zellen seien keine Neurone, wie bislang angenommen, sondern weiße Blutzellen, sogenannte Makrophagen ( Nature, online). Diese Zellen aber könnten nicht als Sensoren für das Erdmagnetfeld dienen, so die Autoren. Und damit ist wohl eine große Frage wieder offen: Wie nehmen Vögel das Magnetfeld der Erde wahr? Und wo befinden sich die dafür zuständigen Zellen?
Dabei schien die Antwort darauf lange Zeit klar zu sein. Gerta und Günther Fleissner, ein Forscherehepaar aus Frankfurt, hat seit Jahren immer wieder Studien in hochrangigen Fachzeitschriften veröffentlicht, die nach Ansicht der Vogelkundler die Existenz der magnetischen Nervenzellen im Vogelschnabel belegten. Und bislang waren die Ergebnisse dieser Analysen in der Fachwelt auch akzeptiert.
Auf Keays Untersuchung reagierten die Fleissners prompt. Noch ehe Nature die Studie ins Internet gestellt hat, hatten die beiden einen ruppigen Gegenkommentar verfasst. Sie werfen Keays Voreingenommenheit und Profilierungslust vor, von einer "lächerlichen Interpretation der Daten" ist die Rede. Die Analysen seien von schlechter Qualität, und, so wörtlich, die "ganze Studie leider ein großer Mist".
Unterstützung erhalten die Fleissners von Roswitha Wiltschko, die zusammen mit ihrem Mann Wolfgang einst in Verhaltensexperimenten entdeckt hatte, dass Vögel sich grundsätzlich am Magnetfeld der Erde orientieren. Dazu betäubten die beiden Forscher die mutmaßlichen Magnetfeld-Sensoren, indem sie den Vögeln eine Tinktur auf den Schnabel strichen. Die so manipulierten Tauben orientierten sich signifikant anders als Kontrolltiere. "Alle unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass die von den Fleissners identifizierten Strukturen als Magnetfeld-Sensoren dienen", sagt Roswitha Wiltschko. "Ich glaube ganz fest an diese Rezeptoren."
Auf den Glauben allein wollte sich Keays jedoch nicht verlassen. Zahlreiche Gewebeproben von 172 Taubenschnäbeln untersuchten er und sein Team mit Computer- und Magnetresonanztomographie sowie mit modernen Färbemethoden. Diese sind in der Histologie, wie die Erforschung von Körpergewebe auch heißt, eine übliche Methode, um verschiedene Zelltypen voneinander zu unterscheiden. Sie haben sich in Millionen Versuchen bestens bewährt - und doch hängen sie immer auch von der Interpretation des jeweiligen Betrachters ab. Es ist wie mit einem Röntgenbild, aus dem mehrere Ärzte manchmal unterschiedliche Diagnosen herauslesen.
So kam Keays zu anderen Schlüssen als seine Frankfurter Kollegen. Nicht nur identifizierte er die vermeintlichen Nervenzellen als Makrophagen. Diese weißen Blutzellen helfen, den Körper gegen Infektion zu verteidigen und das Eisen aus den roten Blutkörperchen zurückzugewinnen. Anders als Nervenzellen sind sie aber nicht elektrisch erregbar und können deshalb auch nicht als magnetische Sinneszelle dienen.
Auch weitere Strukturen innerhalb der umstrittenen Zellen interpretierte das Team anders, als es der bislang üblichen Deutung entspricht. Was bisher als Membran-umhülltes Bläschen galt, ist Keays zufolge ein Zellkern. Einen solchen aber dürfte es in den Zellen nicht geben, sollte es sich tatsächlich, wie bislang angenommen, um Dendriten handeln, also Ausläufer von Nervenzellen.
Als weiteres Argument für ihre überraschende These führen die Autoren an, dass sie die umstrittenen Eisenoxidstrukturen nicht nur an den sechs Stellen im oberen Teil des Schnabels gefunden haben, an denen sie sich der bisherigen Theorie zufolge befinden - und zwar bei jedem Tier an der gleichen Stelle. Vielmehr gebe es diese Strukturen auch in anderen Teilen des Taubenkörpers, etwa im Atemtrakt und der Haut, schreibt Keays. Und selbst im Schnabel variiere ihre Position erheblich. Auch dies spreche dagegen, dass diese Eisenoxid-Partikel als Magnetfeld-Sensoren dienten. Keays zieht ein eindeutiges Fazit: "Wir glauben zwar, dass es solche Sensoren gibt - nur sind sie noch nicht entdeckt."
Dieser Auffassung hat sich inzwischen auch Henrik Mouritsen von der Universität Oldenburg angeschlossen. In der heftig geführten Debatte vertritt der Biologe eine besonnene Haltung. Als Mouritsen vor einem Jahr auf einer Konferenz zum ersten Mal von Keays Arbeiten hörte, war er noch skeptisch. Dann untersuchte er selbst die Gewebeproben, auf die sich die Nature-Studie stützt. "Danach wusste ich: Das müssen wir ernst nehmen, das erschüttert eine unserer Grundannahmen", sagt Mouritsen. "Die Beweislast liegt jetzt bei denen, die die umstrittenen Strukturen immer noch für Magnetfeld-Sensoren halten." Keays und seine Kollegen hätten sehr sorgfältig gearbeitet. "Wenn man eine weithin akzeptierte Meinung widerlegen will, braucht man umso überzeugendere Argumente", sagt Mouritsen. "Und die liefern die Autoren in ihrer Studie."
Das bedeutet eine Menge neuer Arbeit für die Taubenforscher. "Ich glaube immer noch, dass irgendwo im Schnabel Magnetfeld-Sensoren sind. Aber die Suche nach ihnen fängt jetzt wieder von vorn an", sagt Mouritsen. "Das wirft das ganze Forschungsfeld mindestens um zehn Jahre zurück."