An einem sonnigen Spätsommertag in Stralsund sitzt Jens Müller in einer Brasserie am Neuen Markt und trinkt Kaffee. Aber genießen kann Müller weder das schöne Wetter noch das Getränk, die Anspannung ist ihm anzumerken. Der Sprecher der Nord Stream 2 AG ist aus der Schweiz angereist, um seine schärfsten Kritiker zu treffen - den grünen Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer und die klimapolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Annalena Baerbock. Die beiden haben jede Menge unangenehmer Fragen parat.
Die erste Nord-Stream-Pipeline durch die Ostsee ging 2011 noch recht problemlos über die Bühne. Um die zweite Gasleitung hingegen, die ebenfalls 1200 Kilometer von der russischen Küste bis zum Anlande-punkt in Lubmin in Mecklenburg Vorpommern reicht, ist ein internationaler Streit entbrannt. Denn alleiniger Eigner von Nord Stream 2 ist der russische Gaskonzern Gazprom, Europäer wie die deutsche Wintershall oder die französische Engie sind nur noch Investoren.
Russland hat großes Interesse an dem Projekt, weil es dadurch ein weiteres Druckmittel in die Hand bekäme: Staaten wie die Ukraine könnten künftig bei der Gaslieferung nach Europa umgangen werden. Aus ähnlichen Gründen lehnen die Ukraine und andere osteuropäische Staaten die Pipeline ab; die USA haben mit einem Gesetz Sanktionen gegen die beteiligten Unternehmen ermöglicht. Auch die EU-Kommission hat große Bedenken und versucht seit Monaten, sich offiziell in die Verhandlungen einzuschalten - gegen den Willen der bisherigen Bundesregierung, deren Ansicht nach das Projekt rein privatwirtschaftlich sei, Brüssel habe da nicht mitzureden.
Die Schweinswale vor Gotland könnten durch den Bau der Pipeline vertrieben werden
Doch auch Umweltschützer haben Vorbehalte gegen die zweite Pipeline - und Zweifel, dass diese angesichts der politischen Gemengelage richtig geprüft werden. Das liegt schon am straffen Zeitplan: Von Januar 2018 an sollen Schiffe auslaufen, um die ersten Rohre zu verlegen. Doch dafür liegt bis heute keine einzige Genehmigung der fünf Ostseeanrainerstaaten vor. Das alles nimmt die Nord Stream 2 AG betont gelassen. In Stralsund macht Müller im Gespräch mit den Grünen-Politikern Werbung für die Pipeline; auf lange Sicht, sagt er, werde sie sogar die Gaspreise senken.
Wie zum Trotz stapeln sich Tausende betonummantelte Rohre im Ostseehafen Mukran auf Rügen. Als 2014 aufgrund europäischen Widerstandes das Projekt einer South-Stream-Pipeline durch das Schwarze Meer von Russland nach Bulgarien eingestellt wurde, waren auch schon Tausende Rohre gewalzt - Gazprom blieb auf der Rechnung sitzen. Noch so ein Debakel wollen Jens Müller und die insgesamt fünf europäischen Investoren unbedingt verhindern. Nord Stream 2 hat bereits Aufträge in Milliardenhöhe vergeben.
Rund 200 Kilometer nordöstlich von Stralsund haben sich auf der dänischen Insel Bornholm am selben Augusttag einige Befürworter und viele Gegner von Nord Stream 2 versammelt. In der ersten öffentlichen Anhörung in Rönne wettern Umweltschützer gegen den Pipelinebau. Fischer fürchten um die Laichplätze des Dorsches. Die Pipeline soll genau dann verlegt werden, wenn die Fische sich vermehren. Die Umweltschützer sind auch besorgt um die Schweinswale vor Gotland, die durch den Bau vertrieben werden könnten. Auch das Ausbaggern eines Teils des 1200 Kilometer langen Grabens für die Leitung am Meeresboden ist nicht folgenlos. "Dadurch werden jede Menge Sedimente freigesetzt, in denen auch abgelagerter Dünger enthalten ist, der das Wasser verschmutzt", sagt Jochen Lamp vom WWF. Er hat beim Bergamt Stralsund einen Stopp des Pipelinebaus gefordert. Die kleine Behörde ist für die Genehmigung des Großprojektes zuständig; ohne ihr Ja keine Pipeline.
Auch der Nabu kämpft gegen das Projekt: In den Gewässern vor der deutschen Küste sollen gleich fünf Meeresschutzgebiete durchquert werden. Hinzu kommt die Großbaustelle, sie könnte die Meeresvögel in der Pommerschen Bucht stören. Und überhaupt sei alles viel zu wenig untersucht, um die Langzeitfolgen abzuschätzen.
Noch ist über die Einwände der Umweltschützer nicht entschieden. So richtig rechnet jedoch keiner damit, dass die Einwendungen in Stralsund erfolgreich sein könnten. Das Genehmigungsprozedere in Russland halten viele Umweltschützer sowieso für abgekartet. Dort hat eine kleine Behörde des Verwaltungsbezirks Leningrad im Juli den Pipelinebau durch das Naturschutzgebiet Kurgalsky erlaubt. Greenpeace klagt gegen die Entscheidung, die auf fragwürdigen Expertisen beruhen soll. "Die Gutachten sind getürkt und die Wissenschaftler von Nord Stream bezahlt", sagt Mikhail Durkin, Leiter der NGO Coalition Clean Baltic, der 18 Umweltorganisationen aus Ostseeanrainerstaaten angehören.
Widerstand gegen den Pipelinebau kommt auch von Bauern aus Rügen. Die bekamen im Mai dieses Jahres einen Brief mit dem Angebot, ihr Ackerland zu verkaufen. Die Flächen will Nord Stream 2 für Kompensationsleistungen für die Umweltfolgen des Baus nutzen.
Die Bauern machen sich Sorgen, dass es Enteignungen geben könnte, falls die Pipeline genehmigt wird. "Ich soll 20 Prozent meiner Ackerland- und Weideflächen abgeben - und das erfahre ich einige Monate vorher per Post", empört sich der Rügener Bauer Johann Tophoff-Kaup. Die Flächen seien völlig willkürlich ausgewählt. Inzwischen hat Nord Stream 2 das Konzept überarbeitet, nun soll doch auf einen Großteil der geplanten Ackerlandumwandlung auf Rügen verzichtet werden.
Der ukrainische Staatskonzern verliert durch die Pipeline rund zwei Milliarden Euro Einnahmen
Hinter den Kulissen arbeiten derweil unzählige Lobbyisten für und gegen das Energieprojekt. Laut EU-Transparenzregister investierte Gazprom allein 2016 in Lobbyaktivitäten in der Europäischen Union eine halbe Million Euro. Aber auch die Ukraine versucht, in Brüssel ihren Einfluss geltend zu machen. Jens Müllers Gegenspieler dort heißt Alan Riley. Sein größter Aufreger ist die "russische Erzählung", dass die neue Pipeline ein rein kommerzielles Projekt sei. "Die Ukraine ist im Krieg mit Russland", sagt Riley. Wie könne man da an rein ökonomische Ambitionen glauben? Für den Brüsseler Lobbyisten ist diese auch von der deutschen Regierung verbreitete Version ein großer Propaganda-Erfolg.
Doch auch er muss seinen Lebensunterhalt verdienen. Das macht er mit Beratungsaufträgen für den ukrainischen Energieriesen Naftogaz - einer der größten Verlierer des Nord Stream Projektes. Der Staatskonzern büßt durch die Pipeline zwei Milliarden Euro Durchleitungsgebühren pro Jahr ein, das sind knapp fünf Prozent der ukrainischen Wirtschaftsleistung. 2019 laufen die Durchleitungsverträge mit dem russischen Gasversorger Gazprom aus. Wenn Nord Stream 2 dann bereits fertig sein sollte, hat Naftogaz eine denkbar schlechte Verhandlungsposition.
Spricht man mit einem Auftragnehmer von Naftogaz in Brüssel, der Agentur Cabinet DN, wird es schnell ungemütlich. Fragt man etwa nach möglichen Verbindungen der Lobbyagentur mit der US-Agentur Value Bridge, ist das Gespräch schnell beendet; per Mail stellt Cabinet DN anschließend klar, dass man nicht zitiert werden wolle und "nichts abstreite oder bestätige". Laut US-Lobbyregister jedoch bezahlte Naftogaz über Cabinet DN 45 000 Dollar an die US-Agentur für eine Nord-Stream-kritische Veranstaltung im texanischen Houston im März dieses Jahres sowie für Nord-Stream-kritische Gespräche mit amerikanischen Politikern und Pressevertretern. Weitere 18 000 Dollar erhielt die US-Agentur von einer Naftogaz-Tochter. Naftogaz bestreitet jedoch jedwedes Investment in Lobbying, trotz mehrerer Klagen von ukrainischen Journalisten der Zeitung Ukrayinska Pravda, denen entsprechende Verträge vorliegen.
Doch nicht nur die Ukrainer versuchen in Washington, Einfluss zu nehmen. Auch Nord Stream 2 ist dort tätig. Das Unternehmen schloss vor der Verabschiedung der US-Sanktionen ebenfalls Verträge mit vier US-Lobbyagenturen ab; ungefähr eine Million Dollar soll dafür 2017 laut den Daten des unabhängigen Center for Responsive Politics geflossen sein. Wie viel das gebracht hat, ist unklar. In dem Sanktionsgesetz steht nun zwar schwarz auf weiß: Die US-Administration wolle sich weiter gegen den Bau von Nord Stream 2 engagieren, da die Pipeline "einen schlechten Einfluss auf die Energiesicherheit der Europäischen Union, die Entwicklung des europäischen Gasmarktes und die Energiereformen in der Ukraine hat". Welche konkreten Folgen dieser Passus hat, muss sich aber erst zeigen.
Darum geht die Arbeit der Lobbyisten weiter. Am 1. August 2017 schlossen die fünf Investoren von Nord Stream 2 - darunter die deutschen Unternehmen Wintershall und Uniper - Verträge mit der US-Agentur McLarty, um "die Interessen der Unternehmen in den Diskussionen über den Gasmarkt als Teil der europäischen Energiesicherheit zu schützen und zu fördern". Die größte Sorge der Unternehmen ist, dass die Sanktionen gegen Russland auch sie als Investoren der Nord-Stream-Pipeline treffen könnten, das wäre wohl das Ende des Projekts. Dass es so kommt, gilt derzeit indes als unwahrscheinlich.
Die Nord Stream 2 AG jedenfalls scheint nicht mit einem Scheitern zu rechnen. "Für ein ambitioniertes Projekt brauche ich einen ambitionierten Zeitplan", ist die einfache Antwort von Sprecher Jens Müller. Die Umweltbedenken scheinen ihn dabei noch am geringsten zu beunruhigen.
Die Recherche wurde von den Journalisten-Netzwerken n-ost und n-vestigate unterstützt