Medizinische Versorgung:Hoffentlich nicht privatversichert

Lesezeit: 8 min

Hat sich schon jemand bei den Privatversicherten bedankt? Nein? Dabei ermöglichen sie den medizinischen Fortschritt - weil sie jeden Test mitmachen.

Werner Bartens

Kommt ein Kassenpatient zum Arzt. Er hat Stress im Büro, Ärger mit der Frau und Bauchschmerzen. Der Arzt drückt auf dem Bauch herum, sagt, "das wird schon wieder" und "gönnen Sie sich mal ein paar Tage Ruhe". Auf Wiedersehen im nächsten Quartal.

"Vorerst kommen wir ohne Kernspin aus" - wer weiß, wie lange. (Foto: Foto: istock)

Kommt ein Privatpatient zum Arzt. Er hat Stress im Büro, Ärger mit der Frau und Bauchschmerzen. Der Arzt nimmt viel Blut ab, macht Ultraschall von Bauch und Herz ("Sie sind jetzt in dem Alter"), den Helicobacter-Atemtest, den Laktosetoleranztest und schreibt den Patienten sofort zur Darm- und zur Magenspiegelung ein. "Vorerst kommen wir ohne Kernspin aus", sagt der Arzt. "Aber wir müssen dran bleiben, die Ursache finden wir schon." Bis morgen.

Der Kassenpatient hat noch etwas Magengrummeln, dann schläft er aus, und es geht ihm wieder gut. Der Privatpatient fühlt sich erstklassig betreut und hält den Arzt für gründlich. Sein Bauch drückt noch etwas, und er macht sich natürlich Sorgen, ob nicht Schlimmeres dahinter steckt. Er schläft schlecht, muss sich bei der Arbeit abmelden, denn er hat Arzttermine für den Rest der Woche. Bei ihm wird nichts Gefährliches gefunden, nur Polypen ("die müssen wir regelmäßig kontrollieren"), leicht erhöhte Harnsäure- und Cholesterinspiegel ("sollten wir medikamentös richtig einstellen, da sehen wir uns öfter") und eine Neigung zur Laktose-Intoleranz ("diätetisch können wir da was machen").

Zwei Männer mit ähnlichen Beschwerden. Zwei Männer, die eigentlich gesund sind. Nur ist der eine privat versichert, der andere nicht.

Hat sich schon jemand bei den Privatversicherten bedankt? Nein? Dabei sind sie es, die den medizinischen Fortschritt ermöglichen. Sie lassen unbewiesene Therapien über sich ergehen, schlucken neue Medikamente, machen jeden Test mit und opfern sich für uns alle auf. Sonst traut sich keiner. Die 8,6 Millionen Privatversicherten im Land - gerade zehn Prozent der Bevölkerung - zahlen sogar höhere Beiträge. Privatversicherte sind die Märtyrer der Medizin.

Die heutigen Ärzte haben die löbliche Tradition des Selbstversuchs schleifen lassen. Keiner in Sicht wie Max Pettenkofer. Der Hygiene-Professor schluckte 1892 freiwillig Cholera-Brühe, weil er überzeugt war, dass die Erreger ihm nichts tun würden. Da irrte er gewaltig, überlebte aber trotzdem. Oder Werner Forßmann - er stach sich 1929 einen selbst gebastelten Katheter in die Ellenbeuge, schob ihn bis zum Herz vor, ging in die Röntgenabteilung und machte eine Aufnahme. Sein Chef, Ferdinand Sauerbruch, hat ihn sofort 'rausgeschmissen. 1956 erhielt Forßmann den Nobelpreis.

Heute müssen für unbewiesene Therapien die Privatpatienten ran. Also nochmals: Danke, liebe Privatversicherte!

Dafür werden sie zuvorkommender behandelt. Einen schönen Satz sagt Peter Sawicki, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: "Privat Versicherte warten kürzer auf unnötige Operationen und überflüssige Röntgenaufnahmen."

Geheimnisse der Medizinersprache
:Das Ärzte-Latein

Manche "Fachbegriffe" der Ärzte haben nur einen Zweck: Der Patient soll sie nicht verstehen. Damit Sie bei der nächsten Visite wissen, was der Arzt wirklich von Ihnen hält - hier die wichtigsten Ausdrücke.

Es lässt sich statistisch, anekdotisch und mit Beispielen aus dem Ausland zeigen, was Privatpatienten alles mitmachen müssen - und dass ihnen das nicht unbedingt gut tut.

Bildstrecke
:Tipps für Patienten

Wie Patienten mit ihrem Arzt umgehen sollten.

Erst zur Statistik: Jährlich werden die Daten zur medizinischen Versorgung in Deutschland erhoben und mit denen anderer Länder verglichen. Die Analysen zeigen, dass Privatversicherte häufiger zum Facharzt gehen, länger im Krankenhaus behandelt und häufiger operiert werden. Die Operationen scheinen in vielen Fällen nicht nötig zu sein, denn Privatpatienten geht es deshalb nicht besser. 33 Prozent der Privatversicherten berichten von Doppeluntersuchungen in kurzer Zeit. Unter den gesetzlich Versicherten sind es 18 Prozent. Privatpatienten bekommen auch häufiger neue Arzneien, die noch nicht lange erprobt und deshalb potentiell gefährlicher sind.

Privatversicherten wird öfter das Knie gespiegelt. Dabei werden Knochenwülste abgefräst und das Gelenk gespült. Der Orthopäde Bruce Moseley hat gezeigt, wie fragwürdig der Eingriff ist. Er teilte Patienten mit Knieschmerz in Gruppen ein. Eine bekam das Gelenk geglättet, die zweite gespült, bei der dritten ritzte Moseley nur die Haut ein, wo der Schlauch eingeführt wird; dazu kamen Spülgeräusche vom Tonband. Ein Jahr später ging es den Operierten nicht besser als jenen, die nur zum Schein behandelt wurden.

Nicht jeden erwischt es so schlimm wie den Hypochonder, der privat versichert ist - eine gefährliche Kombination. Seine kleine Tochter, ebenfalls privat versichert, bekam Bauchschmerzen. Die Hausärztin beruhigte die Familie und schickte sie nach Hause - fast. Im Rausgehen riet sie den Eltern, in der Klinik klären zu lassen, ob nicht der Wurmfortsatz vereitert sei. Zur Sicherheit, man wisse ja nie.

Wenn Ärzte sagen, sie machen etwas "zur Sicherheit", folgt grundsätzlich die große Verunsicherung.

Die Ärzte fanden nichts im Bauch, rieten aber dazu, "zur Sicherheit" das Kind fünf Tage in der Klinik zu behalten. Nur mit Mühe und unter der Maximaldrohung "Sie verlassen das Krankenhaus gegen ärztlichen Rat" verließ die Familie die Klinik. Am nächsten Morgen konnte das Kind wieder in die Schule.

Ein anderer Privatpatient ging mit Rückenschmerzen zum Arzt. Zwei Tage später sollte er zum Kernspin wiederkommen. 90 Prozent aller Rückenschmerzen verschwinden von allein, aber "um akute Ereignisse auszuschließen", ließ der Arzt sofort eine Röntgenaufnahme anfertigen. Zweimal Bilder, einmal davon mit unnötiger Strahlenbelastung. Beides hätte man dem Patienten ersparen können.

Überdiagnostik und Übertherapie

Jeder Arzt würde beim Bier zugeben, dass Privatpatienten zu viel überflüssige Medizin bekommen. Öffentlich sagen das wenige. "Die ausufernde Anwendung von gefährlicher Diagnostik und Therapie des Geldes wegen ist längst eine Gefahr für Privatversicherte", sagt Ellis Huber, Ex-Präsident der Berliner Ärztekammer. Seit kurzem gibt es die Begriffe Überdiagnostik und Übertherapie. Das heißt, Veränderungen im Körper werden erkannt und behandelt, von denen die Menschen nie etwas bemerkt hätten.

Neulich saß bei Anne Will ein Rentner-Paar auf dem Betroffenen-Sofa. Beide waren empört, dass sie für ihren gestiegenen Kassenbeitrag nicht mehr Leistung bekamen. Wer mehr zahlt, soll auch mehr Medizin haben, so ihre Logik. Viele Menschen glauben, dass es immer von Vorteil ist, wenn man mehr von etwas bekommt. Für Geld und Liebe stimmt das. Für Bauchfett und Schulden trifft es nicht zu. Und auch nicht für die Medizin.

Fiktion und Realität
:Zehn Mythen über Ärzte

TV-Serien beeinflussen das Bild, das sich Patienten vom Arzt machen - dank unausrottbarer Klischees. Die zehn auffälligsten von ihnen.

Berit Uhlmann

Ein einfacher Vergleich zeigt das. In Deutschland gehen die Menschen 17-mal im Jahr zum Arzt. Norweger gehen nur dreimal jährlich, und das liegt nicht daran, dass sie gesünder sind oder der Weg über die Fjorde so weit ist. Norwegische Ärzte bekommen eine Einschreibepauschale für ihre Patienten. Sie erhalten gleich viel Geld, egal ob die Menschen gar nicht kommen, einmal im Jahr oder einmal in der Woche. Das fördert Medizin, die Patienten nutzt, nicht schadet.

Es besteht also - anders als in Deutschland - kein Grund, das Rezept für die Antibabypille für drei Monate auszuschreiben, damit in jedem Quartal ein Besuch fällig ist und Kontrollen "zur Sicherheit" angeboten werden können. Es reicht die Halbjahrespackung, die es in Deutschland übrigens auch gibt.

Für norwegische Ärzte gibt es auch keinen Grund, Patienten nach unauffälliger Darmspiegelung nach zwei Jahren schon wieder einzubestellen, wie das viele deutsche Ärzte tun. Aus medizinischer Sicht reicht die nächste Untersuchung nach fünf bis zehn Jahren. Ach ja, Norweger haben eine höhere Lebenserwartung als Deutsche. Das wird sich so schnell wohl nicht ändern, denn Ärzte in Deutschland werden für Quantität bezahlt, nicht für Qualität. Und für Quantität bei Privatpatienten bekommen sie besonders viel.

In jüngster Zeit gab es Studien, in denen gezeigt wurde, dass gesetzlich Versicherte länger auf eine Untersuchung warten müssen. Was im Einzelfall lästig ist, könnte sich als Überlebensvorteil herausstellen. Keine der Untersuchungen war dringend nötig. Trotz aller Warnungen vor einer Zweiklassenmedizin und Einzelfallberichten ist bei Notfällen bisher nichts von Unterschieden in der Wartezeit bekannt - egal wie Patienten versichert sind. "Es ist wahrscheinlich, dass bei Privatpatienten in Deutschland eine Überversorgung vorliegt, die durchaus schädlich sein kann", schreibt Peter Sawicki in einem Fachartikel. Fällt die viel beschworene Zweiklassenmedizin zuungunsten der Privatversicherten aus?

Fragwürdige Aufbaukuren

Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass viel Medizin auch schaden kann. Too much medicine? Diese Frage stellte das renommierte British Medical Journal schon 2002. Warum übereifrige Diagnostik und Therapie gefährlich sind, zeigt der PSA-Test auf Prostatakrebs. Er ist ungenau, zudem wachsen viele Tumore so langsam, dass die Männer sie nie bemerken würden. Daher gilt die Hälfte der Prostatakrebse als überdiagnostiziert und übertherapiert. Mehr als 20 Prozent der Männer werden impotent oder inkontinent durch die Operation oder Bestrahlung - und das, weil sie gegen etwas behandelt wurden, das nie Beschwerden verursacht hätte.

Bei Privatpatienten wird jede Leistung einzeln vergütet. Deshalb werden bei ihnen öfter Tumormarker wie PSA bestimmt. Ihnen werden fragwürdige Aufbaukuren und Anti-Aging-Mittel aufgedrängt. Weil Fachverbände ständig die Grenzwerte nach unten verschieben, gelten Blutdruck oder Cholesterin inzwischen bei 90 Prozent der Erwachsenen als therapiebedürftig. Der Nutzen der Behandlung bei leicht erhöhten Werten ist umstritten, Privatversicherten wird sie öfter verordnet, Nebenwirkungen inklusive. In den USA wurde bei 15 Millionen von 22 Millionen Frauen, die keine Gebärmutter mehr haben, ein Abstrich am Gebärmutterhals entnommen. Vorsorge am fehlenden Organ gehört zu den harmloseren Nebenwirkungen.

In der Klinik ist das Los der Privatpatienten nicht besser. Es ist nicht leicht, Patienten am Chefarzt vorbeizuschleusen, sagt ein Kinderarzt aus München. Wer in Deutschland Chefarzt ist, war viel im Labor und auf Kongressen, wenig am Krankenbett. Als Chefarzt muss er die Klinik repräsentieren, verwalten und forschen. Die Kranken kennt er manchmal nur aus Erzählungen.

Als kürzlich die Chefarztstelle an einer Uniklinik mit einem Kandidaten besetzt werden sollte, der die vergangenen Jahre in Laborkellern zugebracht hatte, regte sich Kritik - er habe doch kaum klinische Erfahrung. Aus der Berufungskommission hieß es, als Chef müsse er nicht Patienten behandeln, sondern die Klinik nach vorn bringen. Soll er sich fähige Oberärzte suchen für die Kranken, so der Rat der Kommission. Er bekam die Stelle.

Hat man Anspruch auf eine Chefarztbehandlung und der Chef will tatsächlich selbst operieren, so sollte man das unter Umständen als Drohung auffassen. Denn falls der Chef im OP steht, hat er meist wenig Übung. Woher auch? Manche Chefärzte sind nicht nur wegen ihres Kasernentons gefürchtet, sondern auch weil das Team mehr blutstillende Klammern braucht. Geschickte Chefs überspielen ihre Mängel. Ein Operateur pflegte im OP-Saal immer dann das Skalpell an seine Oberärzte zu übergeben, wenn es schwierig wurde: "Der Rest ist Routine, machen Sie mal zu!", sagte er, bevor er sich verabschiedete und den komplizierten Teil den Untergebenen überließ.

Bemerkenswert auch der Chefarzt mit Parkinson. Keiner traute sich, ihm zu sagen, dass Zittern für Chirurgen nicht optimal ist. Es gab genug Privatpatienten, die auf der Chefarztbehandlung bestanden. Bei zielgerichteten Bewegungen wird das Zittern übrigens weniger.

Der Harvard-Mediziner Atul Gawande hat untersucht, warum die USA das teuerste Gesundheitswesen der Welt haben (Platz zwei und drei belegen die Schweiz und Deutschland). Der teuerste Distrikt des Landes liegt in McAllen, Texas. Dort werden 15.000 Dollar pro Kopf und Jahr für Medizin ausgegeben. In dem Distrikt in Minnesota, in dem sich die legendäre Mayo-Klinik befindet, sind es 5000 Dollar pro Kopf.

Ethik des Profits

Der Unterschied besteht nicht darin, dass Menschen in Texas kränker wären. Das Teuerste in der Medizin ist der Stift des Doktors. In McAllen ließen sich die Ärzte auf einen finanziellen Wettbewerb ein. Ihre Ethik war nicht die des Hippokrates, sondern die des Profits. Die Ärzte belegten Kurse, um zu lernen, was sie noch anbieten könnten, und sie sorgten dafür, dass ihre Geräte ausgelastet waren. Gesünder wurden die Patienten nicht, sie brachten nur mehr Geld ein.

In der Mayo-Klinik gilt das Motto "Patientenbedürfnisse zuerst". Das heißt nicht, dass Patienten alles bekommen, sondern dass sie von Untersuchungen und Therapien verschont bleiben, die sie nicht brauchen. Gawande hat die ärztliche Versorgung mit dem Bau eines Hauses verglichen. Man stelle sich vor, man engagiert keinen Architekten, sondern gibt dem Elektriker so viele Leitungen in Auftrag, wie er vorschlägt, dem Installateur so viele Klos und dem Fliesenleger alle Fliesen, die er für ratsam hält. Am Ende hätte man ein überteuertes Haus mit zwei Dutzend Toiletten, Licht an jeder Ecke, komplett gefliest, aber es würde nach kurzer Zeit zusammenkrachen - auch wenn der Elektriker in Harvard oder an einer deutschen Exzellenz-Uni ausgebildet wäre.

Dabei macht es keinen Unterschied, von wem Elektriker oder Arzt bezahlt werden. Vielmehr muss sich jemand für das Ganze verantwortlich fühlen. Sonst entsteht ein System ohne Bremsen, ein System der Überversorgung, in dem aus Ärzten längst Geschäftsleute geworden sind. Ärzte brauchen wohl einen finanziellen Anreiz, damit es den Menschen gut geht. Es gibt eine einfache Lösung, damit Patienten nur die Medizin bekommen, die sie benötigen, und nicht die, die ihnen auch schaden könnte: Im alten China wurden die Ärzte nur bezahlt, so lange die Menschen gesund waren.

© SZ vom 27.06.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: