Medizin:Manchmal muss man abwarten

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Die Gesellschaft sollte lernen, etwas noch nicht zu wissen - und dennoch nicht in Panik verfallen, kommentiert Hanno Charisius. (Foto: Wolfgang Rieger/IMAGO/Shotshop)

Die Wissenschaft ist überfordert, wenn sie für jeden neuen Erreger oder jede unbekannte Krankheit sofort die Erklärung liefern soll. Die Gesellschaft muss lernen, mit unsicherem Wissen umzugehen.

Kommentar von Hanno Charisius

Was ist nicht alles spekuliert worden, über die Ursache jener fast 1000 Hepatitisfälle bei Kindern, die in über 30 Ländern seit dem Frühjahr entdeckt wurden. Keiner der üblich verdächtigen Erreger kam infrage, andere nahe liegende Ursachen wurden schnell ausgeschlossen und so rätselte die Wissenschaft: Ist es eine Autoimmunentzündung als Folge einer Corona-Infektion? Greift ein Erkältungserreger die Leberzellen an? Wurde das Immunsystem nach Wegfall der Coronaschutzmaßnahmen von Erregern plötzlich überrannt?

Nun zeigt sich: Es ist ein bisschen was von allem. Zwei Forschergruppen konnten in dieser Woche zeigen, dass es wahrscheinlich eine Doppelinfektion mit hundsgewöhnlichen Viren braucht und zusätzlich eine seltene genetische Konstitution. All das gab es bereits vor der Pandemie, allerdings sporadisch, schätzen die Fachleute. Dass es nun zu massenhaft Fällen kam, hängt wohl mit dem Ende vieler Schutzmaßnahmen zusammen, wodurch sich sehr viele Kinder in kurzer Zeit zum ersten Mal mit den Viren infizierten, die ihr Immunsystem dazu bringen, die Leber anzugreifen.

Ein neuer Erreger, eine neue Krankheit, schon blickt die Welt auf die Wissenschaft: Erklärt mal wieso, weshalb, warum, aber bitte schnell und einfach und möglichst kompatibel mit der eigenen Weltanschauung. Nachrichtenseiten, Zeitungen, Fernsehen und Radio machen den Wunsch noch drängender und tragen ihrerseits zum verfrühten Erklärungs-Tsunami bei. Und wenn sie nicht liefern, flattert die Aufmerksamkeit des Publikums zu dem Informationsdienstleister, der dazu was im Angebot hat.

Etwas noch nicht zu wissen, trotzdem nicht in Panik zu verfallen, weiterzumachen auf Basis der vernünftigsten Annahmen, die man aktuell stellen kann, das ist eine Übung, die das Coronavirus der Menschheit seit mehr als zwei Jahre lang zumutet. Hilft leider trotzdem kaum beim Umgang mit anderen unklaren Lagen im Leben. Sei es der Klimawandel, die Wirtschaftskrise, der Krieg in der Ukraine oder die Frage, ob die Zinsen für den Kredit noch weiter steigen.

Auch in den Erklärungen zur rätselhaften Kinder-Hepatitis steht viel "wahrscheinlich", "könnte sein", "Hinweis auf". Auch da können neue Untersuchungen die gerade besten Erklärungen in einer Woche wieder über den Haufen werfen. Die nun vielleicht nicht mehr ganz so rätselhaften Hepatitisfälle sind eine weitere Lehreinheit in dem anstrengenden, aber notwendigen Fach "Umgang mit unsicherem Wissen".

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Von Hanno Charisius

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