Freiheit ist ein wertvolles Gut. Sie bedeutet, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. Deutschland garantiert seinen Bürgern die Freiheit verfassungsgemäß in Form von Grund- beziehungsweise Freiheitsrechten. Dazu gehört neben der Meinungs- und Pressefreiheit auch die Wissenschaftsfreiheit.
Letztere hat aus gutem Grund Eingang in unser Grundgesetz gefunden: Vor dem Hintergrund der ideologischen Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus sollte die Wissenschaftsfreiheit grundrechtlich abgesichert werden. Sie wirkt daher als Abwehrrecht gegenüber dem Staat dort, wo ein Wissenschaftler nicht mehr frei ist in der Auswahl und Durchführung seiner Forschungsprojekte. Sie fordert aber auch, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, die freies Forschen ermöglichen. Das ist die Basis, auf der Universitäten und Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft heute arbeiten.
Wissenschaft braucht einen geschützten Raum - weil sie unbequem sein kann, manchmal sogar sein muss! Sie fördert Erkenntnisse zutage, die nicht jeder akzeptieren möchte. Das betrifft Themen wie Klimawandel, Umweltschutz, soziale Ungleichheit, Migration. Verstöße gegen die Wissenschaftsfreiheit richten sich vor allem gegen jene, die die staatliche Autorität herausfordern.
Repressalien gegen Forscher nehmen zu
Mit großer Sorge sehen wir, wo die politische Freiheit und gleichzeitig auch die Wissenschaftsfreiheit immer mehr eingeschränkt werden: In Ägypten hat das Regime kritische Wissenschaftler mit Berufs- oder Ausreiseverboten belegt. In der Türkei wurde ein Ausreiseverbot für das gesamte Lehrpersonal der Hochschulen verfügt. Seit dem Putsch sind 15 Universitäten geschlossen und mehr als 7000 Hochschulangestellte per Notstandsdekret entlassen worden. In China - ohnehin kein Hort von Meinungs- und Pressefreiheit - haben die Behörden ihre Kontrolle über akademische Einrichtungen und Hochschulen in den vergangenen Jahren verschärft. Und in Ungarn, immerhin Teil der Europäischen Union, kollidieren autokratische Bestrebungen mit dem Anspruch der Wissenschaft, international und offen zu sein.
Wir spüren den Druck auf Wissenschaftler auch bei uns. Denn in der Max-Planck-Gesellschaft arbeiten Forscherinnen und Forscher aus mehr als 100 Ländern dieser Erde. Und selbstverständlich registrieren wir, wenn türkische Gastwissenschaftler ihre Forschungsprojekte bei uns abbrechen müssen, weil sie in die Türkei zurückbeordert werden, die Reisemöglichkeiten ausländischer Max-Planck-Wissenschaftler durch verschärfte Einreisebestimmungen beschränkt oder der Austausch und die offene Diskussion über bestimmte Themen behindert werden. Wir sind frei, über jedes Thema zu sprechen und zu schreiben. Doch außerhalb Deutschlands können die Gesetze eines Landes sowie kulturelle Verbote eine ganz andere Situation schaffen. Manch ausländischer Wissenschaftler bleibt seiner Heimat daher für immer fern. Deutschland hat einen solchen Exodus schon einmal zu Beginn der 1930erJahre erlebt - mit all seinen Folgen.
Es reicht nicht aus, Erkenntnisse zu publizieren. Wir müssen die Menschen auch davon überzeugen
Wir sollten daher wachsam sein, um einer schleichenden Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit gerade in Europa rechtzeitig entgegenzutreten. Wie die Meinungs- und die Pressefreiheit ist die Freiheit der Wissenschaft ein Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft. Diese profitiert vom kritischen Denken, von der sachkundigen Analyse, der Bereitstellung von Fakten, die Grundlage für politische Entscheidungen sind. Das gilt für die Naturwissenschaften gleichermaßen wie für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Es ist eine fatale Entwicklung, wenn Politik unbequeme Einsichten leugnet, wenn autokratische Strukturen wichtige demokratische Kontrollinstrumente außer Kraft setzen und Expertenwissen mit "alternativen Fakten" gleichgestellt wird.
Daraus erwächst eine Aufgabe für uns Wissenschaftler hierzulande: Es reicht nicht aus, dass wir wissenschaftliche Erkenntnisse in Fachzeitschriften publizieren. Wir müssen die Menschen auch überzeugen, dass diese Erkenntnisse wirklich wertvoll sind, dass sie einen Beitrag leisten können zur Lösung vieler Probleme. Wissenschaft muss sich erklären, aber sie darf nicht mit akademischer Überheblichkeit belehren. Denn: Auch Wissenschaft kann irren! Unser Wissen reicht immer nur so weit, wie es unsere derzeitigen wissenschaftlichen Methoden zulassen. Und - ganz wichtig: Wissenschaft muss sich gegenüber der Gesellschaft legitimieren, nur dann wird die Gesellschaft ihr auch weiterhin Vertrauen und Unterstützung angedeihen lassen.
Der Elektrochemiker und Materialwissenschaftler Martin Stratmann, 63, ist seit Juni 2014 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, einer der wichtigsten deutschen Forschungsinstitutionen.