Die meisten seiner Gäste hatte Fernsehmoderator Denis Tuohy im Griff. Sie antworteten, wenn sie gefragt wurden, und schwiegen, wenn der Talkmaster redete. Nur mit Margaret Thatcher klappte das nicht. In Interviews fiel Tuohy der damaligen Premierministerin immer wieder ins Wort. Seinen Kollegen ging es ähnlich. Waren das missglückte Versuche, die "Eiserne Lady" zu beeindrucken?, fragten sich drei Psychologen um Geoffrey Beattie von der University of Sheffield danach in einer Studie mit dem Titel "Warum wird Mrs Thatcher so oft unterbrochen?" im Fachmagazin Nature. Oder konnten die Moderatoren vielleicht schlicht nicht erkennen, wann Thatcher zu reden aufhören würde?
Dass tatsächlich letzteres die vielen Missverständnisse verursachte, zeigten die Analysen der Psychologen. Offenbar vermittelte nichts an Thatchers Stimmlage, Betonung, Wortwahl oder Mimik ihrem Gegenüber eindeutig, ob sie im nächsten Moment mit ihrer Antwort zum Ende kommen oder noch einmal ausholen würde.
Die Thatcher-Interviews zeigten Millionen Fernsehzuschauern, was unbemerkt bleibt, wenn Gespräche reibungslos verlaufen. Ob zwei Freunde telefonieren, der Nachbar über das Wetter redet oder Kollegen Gerüchte austauschen - stets gehorchen solche alltäglichen Wortwechsel einem komplizierten Regelwerk. Es steht in keinem Duden, macht reibungslose Gespräche aber erst möglich, seien sie inhaltlich noch so banal, grammatikalisch voller Fehler und stilistisch verstümmelt. Derzeit finden Forscher des Max-Planck-Instituts (MPI) für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen Hinweise dafür, dass diese Regeln möglicherweise sogar über verschiedene Kulturen hinweg gelten.
Eine ideale Unterhaltung kommt ohne Gesprächslücken und Überschneidungen aus", sagt MPI-Forscher Nick Enfield. "Natürlich entstehen trotzdem Pausen in einer Unterhaltung - aber die erfüllen dann eine Funktion." Dass ein komplexes Geflecht ungeschriebener Regeln eine kurze Unterhaltung auf dem Büroflur steuern soll, erscheint zunächst überraschend, besteht doch mancher Wortwechsel vor allem aus einer Aneinanderreihung von "äh", "hm" und anderem Gestotter. "Wenn wir solche Gespräche zu Papier bringen, wirkt es so, als enthielten sie eine Menge Müll", sagt der Linguist Peter Auer, einer der Direktoren des Freiburg Institute for Advanced Studies. "Dabei passiert nichts zufällig."
Das belegen zum Beispiel Untersuchungen des Linguisten Charles Goodwin von der University of California. Er zeigt, dass es nicht unbedingt an Unsicherheit liegt, wenn ein Sprecher sich selbst unterbricht, zum Beispiel mit einem eingestreuten "äh". Stattdessen kann er dieses Verhalten auch als Taktik einsetzen, um Aufmerksamkeit einzufordern. In Goodwins Analysen richtete der Zuhörer seinen Blick - und damit auch seine Konzentration - erst dann auf den Sprecher, nachdem dieser sich selbst unterbrochen und neu angesetzt hatte. War der Blickkontakt zwischen den beiden Gesprächspartnern erst einmal hergestellt, beendete der Sprecher seine Aussage ohne weitere Unterbrechungen. Auch das vermeintlich konfuse Einschieben eines zweiten Gedankens in einen noch gar nicht zu Ende formulierten ersten kann seinen Zweck erfüllen. "Der Zuhörer ist dann schon darauf vorbereitet, dass der abgebrochene erste Gedanke noch auf der Agenda steht und später wieder aufgenommen wird", sagt Auer.
Die Regeln alltäglicher Gespräche lassen sich nicht pauken wie Vokabeln oder Grammatik. "Gesprächskompetenz erwerben wir, indem wir uns in Unterhaltungen ständig wechselnden Situationen aussetzen und auf diese reagieren müssen", sagt der Mannheimer Linguist Martin Hartung, der Seminare zum Thema anbietet. Wie virtuos ein Mensch die Regeln der Alltagsgespräche für sich zu nutzen weiß, zeigt sich zum Beispiel deutlich in Konferenzen. Wer zu Wort kommen will, tut gut daran abzuschätzen, wann der andere zu reden aufhören wird. Bei den meisten Menschen - Margaret Thatcher offenbar ausgenommen - äußert sich dies unter anderem in einer abfallenden Satzmelodie und entspannterem Atmen. Umgekehrt kann ein Sprecher, der virtuos mit den Gesprächsregeln umzugehen weiß, das Verhalten seiner Zuhörer steuern. Wer schon seit zehn Minuten monologisiert und weitere fünf Minuten dranhängen will, sollte Blickkontakte mit seinen Zuhörern vermeiden. "Damit nehme ich ihnen die Möglichkeit, mir zu signalisieren, dass sie nun an der Reihe sein wollen", sagt Hartung.
Blicke sind ein wichtiges Werkzeug, um alltägliche Gespräche zu koordinieren - zumindest in den meisten untersuchten Kulturen. Den Studien der Nimweger Psycholinguisten zufolge gilt unter Europäern die Konvention, dass Blickkontakt den Gesprächspartner zu einer schnelleren Antwort auffordert. Auch Japaner schauen ihr Gegenüber bei der Mehrzahl der Fragen an, ebenso wie die Bewohner Rossel Islands, einer kleinen Insel vor Papua-Neuguinea. Das abgelegene Eiland mit seiner eigenen Sprache Yeli Dnye gehört zu den Untersuchungsgebieten der MPI-Forscher, ebenso wie jene Region Mexikos, in der wenige tausend Menschen noch die Maya-Sprache Tzeltal nutzen. Sie allerdings kommt weitgehend ohne Blickkontakte aus; undenkbar wäre es hier, nur mit einer Geste zu antworten.
Wenn wir soziale Gesprächsregeln auf andere Kulturen übertragen, geht das oft schief", sagt der Linguist Hartung. Auch ein Europäer, der in Tokio in perfektem Japanisch über den richtigen Weg diskutiert, erntet möglicherweise verwirrte Blicke: weil zwar Grammatik und Vokabeln stimmen, er aber mit seiner Antwort etwas zu lange gezögert hat. Japaner reagieren nämlich besonders schnell auf Ja-Nein-Fragen, haben die Nimweger Psycholinguisten ermittelt.
Sie untersuchten anhand von Filmaufnahmen alltäglicher Situationen in zehn Sprachen aus Europa, den USA, Südostasien, Mexiko, Namibia und Papua-Neuguinea, wie viel Zeit verstreicht, ehe ein Einheimischer auf Ja-Nein-Fragen antwortet. Bei Japanern waren es nur sieben Millisekunden, Italiener warteten 310 und Dänen mit 469 Millisekunden am längsten. Die unterschiedlichen Reaktionszeiten ließen sich nicht mit grammatikalischen Besonderheiten der jeweiligen Sprache erklären, betonen die Autoren. Im Dänischen zum Beispiel signalisiert der Sprecher oft schon am Satzanfang, dass es sich um eine Frage handelt, trotzdem verstreicht vergleichsweise viel Zeit bis zur Antwort.
Die Autoren bewerten diese kulturellen Unterschiede allerdings nur als graduell. Sie reichten nicht aus, um jene Anekdoten zu erklären, denen zufolge die Worte unter Südeuropäern nur so hin und her fliegen, während Nordeuropäer erst am Abend eine Frage beantworten, die ihnen morgens gestellt wurde. Allerdings besitze jeder Mensch eine "kulturelle Kalibrierung" in Bezug auf die Antwort-Verzögerung. Sie führe dazu, dass einem Südeuropäer die minimal längere Latenzzeit eines Dänen unverhältnismäßig lang erscheint und ihn irritiert. Die übliche Verzögerung in der eigenen Sprache empfindet man hingegen als normal, sie dient unbewusst als Referenz.
Die Nimweger Psycholinguisten vermuten, dass es dennoch einen Katalog universell gültiger Regeln gibt, nach denen alltägliche Gespräche auf der ganzen Welt funktionieren. Diese These ist nicht leicht zu belegen, da die Forscher erst einmal selbst die jeweiligen Sprachen lernen müssen - oft als die ersten Europäer überhaupt. Seit vergangenem Jahr arbeiten sieben MPI-Forscher an einem 20-Sprachen-Projekt, von dem nun erste Ergebnisse vorliegen. Nick Enfield, der neben einigen europäischen Sprachen Hindi, Chinesisch, Lao und Kri spricht, sagt: "Wir haben bereits Gemeinsamkeiten gefunden." Zum Beispiel kommen zustimmende Antworten unabhängig von der Kultur stets schneller als ablehnende. Das gilt sogar dann, wenn Zustimmung mit "nein" geäußert wird, etwa bei der Frage: "Du kommst nicht, oder?" Zögert der Angesprochene eine Sekunde lang mit seiner Antwort, erwartet der Fragende Ablehnung - oder überhaupt keine Antwort mehr.
Solche Details faszinieren Forscher nicht nur aus reiner Sammelfreude. "Über die Sprache machen wir einen Großteil unserer sozialen Erfahrungen", sagt der Mannheimer Linguist Hartung. "Sie ist der Stempel unserer Persönlichkeit." Nick Enfield und sein Kollege Stephen Levinson, Direktor am Nimweger MPI, halten beiläufige Wortwechsel aller Art sogar für die Wurzel des menschlichen Geselligkeitstriebs. "Den Willen, mit anderen zu kooperieren, Freundschaften zu bilden und andere zum eigenen Vorteil zu manipulieren, finden wir nirgends sonst so ausgeprägt wie in der menschlichen Gesellschaft", sagt Enfield. Um diesen Willen durchsetzen zu können, brauche es ausgefeilte Regeln für jeden noch so banalen Klatsch und Smalltalk. Andernfalls blieben Ironie und Sarkasmus ebenso unverständlich wie zum Beispiel der auf den ersten Blick einfache Satz "Ich habe Hunger". Dass sich dahinter nicht nur eine Feststellung verbergen kann, sondern auch Nachfrage, Bitte und Beschwerde, merken die Psycholinguisten spätestens dann, wenn sie sich wieder einmal auf einer abgelegenen Insel mit einer Sprache abmühen, deren Feinheiten nur ein paar tausend Einheimische kennen.