Endlich entziffert:Junge Forscher entschlüsseln mysteriöse Schrift

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In der Almosi-Schlucht in Tadschikistan dokumentierte der Archäologe Bobomullo Bobomulloev bilinguale Schriftzeichen. (Foto: Bobomullo Bobomulloev)

Jahrzehntelang verzweifelten Linguisten an Zeichen aus dem antiken Kuschana-Reich in Zentralasien. Jetzt hat eine Gruppe aus Köln das Rätsel gelöst.

Von Niccolò Schmitter

Als ein französischer Offizier im Jahre 1799 den Fund einer mehrsprachigen Stele im ägyptischen Wüstensand meldete, taten die Franzosen das, was wohl jede Kolonialmacht ihrer Zeit getan hätte: Sie sammelten das heute als Rosetta-Stein weltbekannte Artefakt, das zum Schlüssel zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen werden sollte, schnell ein. Später wurde es von den Briten aus seinem Herkunftsland herausgeschafft, heute steht es im Britischen Museum in London. Dem, was man als Rosetta-Stein der Kuschana bezeichnen könnte, kann das nicht passieren: Der "Stein", im Frühjahr 2022 im Hissargebirge Tadschikistans entdeckt, ist ein massiver Felsblock.

Anders als zur Frühphase der modernen Wissenschaft müssen Gelehrte heute auch nicht mehr im Kerzenschein über handgezeichneten Faksimiles grübeln. Hochauflösende Fotografien der Inschrift erreichten bald nach deren Entdeckung die bekanntesten Experten für iranische und indoarische Sprachen, die sich sobald an die Entzifferung machten. Mehrere Dutzend Artefakte mit jener unbekannten Schrift waren bereits bekannt, nun lag den Linguisten eine zweisprachige Inschrift vor, die auch das lesbare Baktrische enthielt. Ein Erfolg ließ dennoch auf sich warten. Erst ein halbes Jahr nach ihrer Entdeckung erreichte die Inschrift auch ein Team aus Köln, und zwar nicht auf direktem Weg, sondern über das soziale Netzwerk Twitter. "Wir sind nun mal keine bekannten Experten", sagt Jakob Halfmann. Doch am Ende sind es seine Kolleginnen und er gewesen, denen die Entzifferung gelungen ist.

Striche, Haken und gebogene Linien: die Schrift in der Nahaufnahme. (Foto: Bobomullo Bobomulloev)

Halfmann ist Doktorand an der Universität zu Köln, genauso wie Natalie Korobzow. Erstautorin Svenja Bonmann ist in der Stadt am Rhein wissenschaftliche Mitarbeiterin. Zusammen gelang ihnen die Enträtselung eines Schriftsystems, das seit über 70 Jahren auf seine Entzifferung gewartet hat. Die Schrift war in Teilen Zentralasiens ab dem zweiten Jahrhundert vor Christus für zumindest 900 Jahre in Gebrauch und wird heute dem sogenannten Kuschana-Reich zugeschrieben. Dessen Herrscherdynastie stammt von den Yuezhi ab, einer zentralasiatischen Stammeskonföderation, die um 140 vor Christus in Baktrien einfiel und sich dort niederließ. Die Region, die größtenteils im Norden des heutigen Afghanistans liegt, war in den vorherigen Jahrhunderten bereits von Persern und Makedonen regiert worden. Nun setzten sich allmählich die Kuschana als Teil-Stamm der Yuezhi durch und errangen die Kontrolle über das Gebiet.

Zuvor war unklar, um welche der vielen Sprachen des Kuschana-Reiches es ging

Die Kuschana expandierten ihr Territorium stetig, bis es im zweiten Jahrhundert nach Christus vom Gebiet des heutigen Tadschikistan bis nach Nordindien und in das westliche China reichte. Es war nunmehr eines der mächtigsten Reiche der antiken Welt, das auch von seiner Lage inmitten der Routen der Seidenstraße profitierte. Der Fernhandel brachte wertvolle Güter ins Reich; Kulturen, Ideen und Religionen vermischten sich. Das Kuschana-Reich wurde zu einem multi-ethnischen staatlichen Gebilde, dessen Kultur von hellenistischen, hinduistischen und altiranischen Einflüssen geprägt war. Offenbar lag es an den sicheren Handelswegen der Kuschana, die einen direkten Transfer von Indien nach China ermöglichten, dass der Buddhismus ins Reich der Mitte gelangen konnte.

Im Imperium der Kuschana sprachen die Menschen eine Vielzahl an Sprachen. Welche davon die bislang nicht lesbare Schrift ausdrücken sollte, ließ Raum für Spekulationen. Das Forscherteam fand nun heraus: Nicht nur die Schrift ist neu, auch die Sprache war bislang unbekannt. "Damit hatte niemand so wirklich gerechnet", sagt Svenja Bonmann. Die Forschenden geben der neuen, mitteliranischen Sprache vorläufig den Namen "Eteo-tocharisch", sie wurde vermutlich von der Herrscherdynastie selbst genutzt und war zeitweise eine der Verwaltungssprachen des Reiches.

Inhaltlich ist die Inschrift dabei wenig ergiebig. Lesbar ist nur ein kleiner Teil, das Übrige ist zerstört. Womöglich könne man Bruchstücke des Steins, die am Boden des Felsens herumliegen, wieder zusammensetzen und so mehr Text rekonstruieren, hoffen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die ersten Worte der Inschrift lauten jedenfalls: "Dies (ist) der König der Könige, Vema Takhtu".

Diese Inschrift in baktrischen Zeichen ermöglichte die Entzifferung. (Foto: Muhsin Bobomulloev)

Der Coup der Entzifferung gelang den Linguisten nicht aus Glück. "Wir sind, soweit ich weiß, sehr viel systematischer vorgegangen als andere Arbeitsgruppen", so Bonmann. Zusammen hätten sie sich Fotos von allen bekannten Inschriften besorgt, ein Zeicheninventar angelegt und sehr gründlich recherchiert, welche Kandidaten für die Sprache infrage kämen. Die unbekannte Schrift war ihnen schon länger bekannt, mit einer systematischen Herangehensweise hatten die Forschenden schon Jahre vor der neu entdeckten Bilingue begonnen. "Soweit wir sehen können, hat sonst niemand so viel Vorarbeit geleistet", sagt Bonmann, die wie der Rest des Trios herausragende Sprachkenntnisse für die Region vorweisen kann: Bonmann hat ihre Dissertation über alt- und mitteliranische Sprachen verfasst, während Jakob Halfmann über moderne indo-iranische Sprachen promoviert hat. Natalie Korobzow verfügt hingegen über Expertise zu semitischen Schriften und Sprachen.

Die Forschenden hatten sich zudem bereits intensiv mit einer nur schlecht dokumentierten dreisprachigen Inschrift auseinandergesetzt, die schon vor über 50 Jahren publiziert worden war. "Die neu entdeckte Inschrift hat geholfen, beide zusammenzulegen und die Schrift teilweise zu entziffern", so Halfmann. 60 Prozent des Schriftsystems seien nun methodisch abgesichert, für die restlichen 40 hätten sie starke Vermutungen. Mit jeder weiteren Inschrift, die das Trio unter die Lupe nimmt, wird klar: Mit seiner Entzifferung liegt es richtig.

Nun liegt die Hoffnung darin, dass in Archiven noch mehr Artefakte mit der Kuschana-Schrift herumliegen, die als solche nur noch nicht erkannt wurden. Die Entschlüsselung der Schrift, von der linguistischen Community fast durchweg positiv angenommen, könnte dann einen Schub an neuen Entdeckungen auslösen. Sicher ist, dass das Forschungsteam aus Köln von diesen dann nicht erst über ihren Twitter-Feed erfahren wird.

In einer früheren Version dieses Textes hieß es, der Stein von Rosetta sei dreisprachig gewesen und von den Franzosen außer Landes geschafft worden. Tatsächlich ist er in drei verschiedenen Schriftsystemen, aber in zwei Sprachen beschriftet. Nach Europa gebracht haben ihn die Briten. Wir bitten, die Fehler zu entschuldigen.

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