Klimawandel:"Es geht was vor, da draußen"

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Die Eisbären der kanadischen Hudson Bay müssen im Sommer länger hungern - ist das der Grund, warum sie sich gegenseitig fressen?

Birgit Lutz-Temsch

Es geht etwas vor da draußen, sagt Nick Lunn. Er ist Wissenschaftler am Northern Studies Center in Churchill, Kanada. Da draußen, das ist der Westrand der riesigen Hudson-Bucht. Dort bläst der kalte Wind Schnee über die Hauptstraße. Die Lichter der flachen Holzhäuser erscheinen fahl. Kein Mensch ist auf der Straße. Für Eisbären ist es allerdings noch immer zu warm.

Das Spiel der Bären ist manchmal ernst. (Foto: Foto: bilu)

Und deshalb ist Nick Lunn besorgt, der diese Tiere seit 30 Jahren beobachtet. Dass es Eisbären schwer haben mit der globalen Erwärmung, ist hinlänglich bekannt, nicht ohne Grund ist der weiße Bär zur Symbolfigur des Klimawandels geworden. Aber neuerdings hat Nick Lunn häufiger Erschreckendes gesehen: Bären, die sich gegenseitig fressen. Viermal in den vergangenen Wochen hat er es beobachtet, und weitere vier Male ist es von anderer Stelle an die Umweltbehörde Environment Canada berichtet worden. Was das bedeutet? "Irgend etwas verändert sich hier gerade", sagt Lunn.

Die Bären Churchills, die zur Western-Hudson-Bay-Population gehören, sind berühmt. Nirgendwo sonst in der Arktis wird die Abhängigkeit dieser Tiere vom Meereis so deutlich, und nirgendwo sonst kann man sie so gut beobachten wie hier. Das liegt an der Eisströmung in der Hudson Bay und der Lage Churchills an einem Kap: Das Eis wandert in der Bucht gegen den Uhrzeigersinn. Nach dem Aufbrechen im Frühjahr bewegen sich die Schollen weiter im Kreis und bleiben dann an dem Kap hängen - wo die Bären an Land gehen, um den entbehrungsreichen Sommer zu überstehen.

In der eisfreien Zeit sollten Menschen tunlichst nicht am Ufer spazieren gehen. Wohin man blickt, liegen Bären im Gestrüpp. Eigentlich widerspricht das der sozialen Struktur der Bären. Sie mögen nicht viel Gesellschaft und streifen meist alleine über das Meereis, immer auf der Suche nach jungen, fetten Robben. Entsprechend schwierig ist es, die Tiere genau zu erforschen. Sie leben einfach weit weg von allem, was Menschen brauchen.

Im vorwinterlichen Churchill dagegen kann man dem ersten Bär schon auf dem Weg vom Flughafen in die Augen blicken. Deswegen kommen um diese Zeit, kurz vor dem Zufrieren der Hudson-Bucht, zuhauf Forscher und Touristen hierher. In großen Buggys bricht man in die Tundra auf, dreht langsame Runden am Ufer der riesigen Bucht.

Es dauert nicht lange, dann trifft man auf die ersten Bären. Wer sich Zeit nimmt, kann mit eigenen Augen sehen, wie die Tiere irgendwann aufstehen, aufeinander zugehen, sich auf die Hinterbeine stellen und einen Kampf beginnen. Dann verbeißen sich die beeindruckenden Bären ineinander, und es fließt Blut.

Meistens ist das ein Spiel, das einen natürlichen Zweck erfüllt. Die Bären bringen nach dem langen Herumlungern an Land ihren Stoffwechsel wieder in Schwung, machen sich fit für das Leben auf dem Eis - und die Robbenjagd. Doch das Eis ließ in diesem Jahr auf sich warten, die Bucht ist Anfang Dezember noch immer nicht zugefroren.

Um 22 Prozent hat die durchschnittliche Eisbedeckung der Hudson Bay seit den achtziger Jahren abgenommen. Um genau den gleichen Prozentsatz ist die Bärenpopulation geschrumpft, so lauten die Zahlen von Environment Canada. Mehr als 1200 Tiere wurden bei einer Zählung 1987 erfasst; 2004 waren es noch 935. "Im Vergleich zu den Siebzigern friert die Bucht heute im Schnitt um dreieinhalb Wochen später zu", sagt Heather Stewart, Ökologin bei der Umweltbehörde. Als Stichtag wird der Moment gewertet, an dem mehr als die Hälfte des Meerwassers der Hudson Bay mit Eis bedeckt ist.

Langes Fasten

Dreieinhalb Wochen, das klingt nicht nach viel. Doch auch das Tauwetter im Frühling verschiebt sich nach vorne - im Schnitt bricht das Eis um zwei Wochen früher auf als noch vor 25 Jahren. Die natürliche Fastenzeit, die die Bären auf dem Land verbringen, verlängert sich durch die Erderwärmung.

Das könnte der Grund sein, für Nick Lunns erschreckende Beobachtung, dass die Bären sich gegenseitig fressen. Sie haben Hunger. Kannibalismus kommt unter Eisbären zwar auch aus anderen Gründen vor: "Kannibalistisches Verhalten tritt auf, wenn sich Männchen mit einem Muttertier paaren wollen", erklärt Lunn, "Bärenweibchen sind nur empfängnisbereit, wenn sie keine Jungen bei sich haben."

Aus dem Fahrzeug sieht man, wie ein Weibchen witternd die Schnauze hebt, ihr Junges anstupst und sich gezielt von einem sich nähernden Männchen entfernt. Immer wieder blickt sie sich nach dem Verfolger um. "Es scheint jetzt, als würden die Bären die Jungen manchmal fressen, weil sie hungrig sind", sagt Lunn. "In den dreißig Jahren, in denen ich diese Bären hier beobachte, habe ich noch nie vier solcher Fälle in einem Jahr gesehen, und es wurden generell noch nie so viele Fälle berichtet." Sollte sich tatsächlich der Kannibalismus unter Eisbären häufen, wäre das fatal für das Überleben der gesamten Population: Ein Eisbärweibchen bekommt nur alle drei Jahre meist zwei Junge.

Und deren Überlebensrate sinkt ohnehin, sagt Heather Stewart. "Unter dem Rückgang des Eises leiden vor allem die Schwachen", sagt sie, "also die Jungtiere und die Alten."

Ein Zeichen

In der Fachwelt ist die Beobachtung in Churchill mit Interesse aufgenommen worden. Kit Kovacs, Biologin am Norwegischen Polarinstitut in Tromsö sagt: "Kannibalismus unter Eisbären kommt vor, ist aber kein normales Verhalten. Die Gründe könnten hier auch regional zu suchen sein: Es kann sein, dass sich einfach zu viele Tiere in einem zu kleinen Gebiet aufhalten." Das lange Ausbleiben des Eises könnte den Druck so weit verstärken, dass es zu Kannibalismus komme. "Man darf nicht immer alles durch eine klimawandelgefärbte Brille sehen, aber das ist definitiv ein Zeichen, dass man weiter beobachten muss."

Weltweit wird die Zahl der Eisbären auf 20.000 bis 25.000 Tiere geschätzt, die in 19 großen Verbänden, sogenannten Subpopulationen, leben. Staaten, in denen Eisbären vorkommen, entsenden seit 1988 Wissenschaftler in die Polar Bear Specialist Group der International Union for Conservation of Nature. Nach deren Zahlen schrumpfen derzeit acht der Populationen. Drei zeigen stabile Zahlen, über sieben weiß man zu wenig, und eine, die McClintock-Population im kanadisch-arktischen Archipel, wächst.

Im Sommer 2009 genossen die Bären der Hudson Bay einen ungewöhnlichen Luxus: Das Frühjahr war kalt, das Eis hielt lange, erst im August mussten die Bären an Land - viel Zeit, um sich eine dicke Fettschicht anzufressen. Doch das Polster wurde im Herbst stark strapaziert. In diesem Jahr ist die Hudson Bay erst Mitte Dezember zugefroren. So lange mussten die Bären am Ufer warten - und hungern.

© SZ vom 18.12.2009/bilu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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