Kuriose Sammlungen:Als die Medizin zur Wissenschaft wurde

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Das 1795 gegründete Conservatoire d'Anatomie in Montpellier ist ein Rückzugsort in eine Welt, als die Medizin gerade erst begann, ihre wissenschaftlichen Wurzeln zu entdecken. (Foto: imago stock&people/imago stock&people)

Das Conservatoire d'Anatomie in Montpellier beherbergt unter anderem kunstvoll präparierte menschliche Arme. Dort riecht es nach Formalin und jahrhundertelanger akademischer Tradition. Teil 5 der SZ-Serie "Was ist das denn?".

Von Werner Bartens

Der Blick aus dem Fenster ist allein schon einen Besuch wert. Direkt auf der anderen Seite der mit Platanen gesäumten Straße befindet sich der Jardin des Plantes, der älteste botanische Garten Frankreichs, der 1593 angepflanzt wurde und in dem jede Visite zu einem Rundgang durch einen verwunschenen Zauberwald wird. Während draußen üppig wucherndes Grün vorherrscht, dominieren innen die grauen, gelben und gedeckten Rottöne; die Farben des konservierten Todes. Es riecht nach altem Holz und jahrhundertelanger akademischer Tradition. Vielleicht ist auch eine Note säuerliches Formalin dabei, denn hier finden sich eingelegte Fehlbildungen, Knochenmodelle und anatomische Präparate ebenso wie eine beachtliche Sammlung meisterhafter Moulagen. Das sind plastische Nachbildungen von Haut- und Geschlechtskrankheiten aus Gips, Wachs oder Pappmaché, die auch bei näherer Betrachtung noch täuschend echt aussehen. Das 1795 gegründete Conservatoire d'Anatomie im Hauptgebäude der Universität Montpellier ist eines der ältesten medizinhistorischen Museen überhaupt und bietet einen Rückzugsort in eine Welt, als die Medizin gerade erst begann, ihre wissenschaftlichen Wurzeln zu entdecken.

In Montpellier ist bereits um 1137 eine Medizinschule gegründet worden, die um 1220 als "universitas medicorum" Erwähnung fand. Hier, nur zehn Kilometer von der Küste des Mittelmeers entfernt, traf die arabische Kultur auf die christliche und jüdische, sodass die Gelehrtenschule für Ärzte vielfältige kulturelle und geistige Strömungen aufnahm. Ähnliches passierte in Salerno, südlich von Neapel, das gemeinsam mit Montpellier als erster Vorläufer einer medizinischen Fakultät gilt.

Die Präparate ermöglichten einen vermeintlich objektiven Blick in und auf den Körper

Das anatomische Museum in Montpellier ist derzeit nur virtuell zu besichtigen; es bietet Anschauungsmaterial im besten Sinne. Zwar gab es schon früher Leichenöffnungen, doch erst Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts etablierten sich Anatomie und Pathologie als akademische Fächer. Mit der Aufklärung wurde auch der Blick in den Körper populär. "Öffnen Sie einige Leichen, alsbald werden Sie die Dunkelheit schwinden sehen, welche die bloße Beobachtung nicht vertreiben konnte", hat der französische Anatom Xavier Bichat seine medizinischen Kollegen in den 1790er-Jahren zu Sektionen ermuntert. Schließlich könne man als Arzt "zwanzig Jahre lang vom Morgen bis zum Abend am Bett der Kranken Notizen über die Störungen des Herzens, der Lungen, des Magens machen; all dies wird sie nur verwirren; die Symptome, die sich an nichts anknüpfen, werden ihnen eine Folge unzusammenhängender Phänomene darbieten".

Anatomie und Pathologie, später die Bakteriologie, wurden im 19. Jahrhundert zu den wissenschaftlichen Leitdisziplinen der Medizin. Sie lösten die seit der Antike populäre Viersäftelehre und die Diätetik ab - Eigenheiten und Schilderungen der Patienten gerieten in den Hintergrund, der vermeintlich objektive Blick in den Körper, das Messen und Vermessen gewannen immer mehr an Bedeutung. Anatomische Präparate, die in medizinhistorischen Museen wie ein exotisches Gruselkabinett wirken oder in den Körperwelten-Ausstellungen als sterile Glasbausteine präsentiert werden, waren damals wichtige Lehrmaterialien. Hier konnte am echten, wenn auch toten Objekt studiert werden, wo die Muskeln ansetzen, die Arterien und Nervenbahnen verlaufen oder sich der Darm durch die Bauchhöhle schlängelt.

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Noch in den Jahren zwischen 1900 und 1910 waren die Anatomie und die Kunst der Präparation so wichtig für die Medizin, dass der Dekan der Fakultät Montpellier in einem Wettbewerb bestimmt wurde. Wer am geschicktesten mit Skalpell und Pinzette umgehen und den Weg der Sehnen, Nerven und Blutgefäße am besten darstellen konnte, wurde gewählt. Jahrelang waren die Arme, die seinerzeit anatomisch freigelegt worden waren, vom Schulterblatt bis zu den Fingerspitzen in den alten Vitrinenschränken mit dem abgerundeten Glas ausgestellt; säuberlich untereinander aufgereiht mit Jahreszahl und Namen dessen, der hier Hand angelegt hatte.

Für medizinische Laien mögen anatomische Museen vor allem morbiden Charme oder leichten Grusel über die Vergänglichkeit des Fleisches ausstrahlen. Für heutige Studierende der Humanmedizin können sie eine Erinnerung daran sein, wie die Lehre vom Aufbau des menschlichen Körpers vor sich ging, als es noch keine 3-D-Modelle gab, keine Apps zur Visualisierung der menschlichen Anatomie in allen Ebenen und aus allen Richtungen. Als die medizinischen Fakultäten noch nicht über den Luxus verfügten, dass sich jedes Jahr Körperspender für den "Präp-Kurs" zur Verfügung stellten, um sich zu Ausbildungszwecken fachgerecht zerlegen zu lassen.

Weitere Folgen der SZ-Serie "Was ist das denn?" lesen Sie unter sz.de/kuriose-sammlungen.

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