Es gab keine Kreissägen im Jungpaläolithikum, und auch ein zufällig daneben gegangener Schlag mit dem Faustkeil trennt nicht ohne Weiteres einen Finger ab. Dennoch bevorzugten Paläoanthropologen bislang prosaische Erklärungen für eine Beobachtung, die sich bei vielen der um die 25 000 Jahre alten Höhlenmalereien in Frankreich und Spanien machen lässt: Diese zeigen Handabdrücke oder -umrisse, bei denen einzelne oder mehrere Finger oder Teile von diesen fehlen. Die Folge irgendwelcher Krankheiten, vielleicht auch von Erfrierungen oder von Unfällen? Nicht unbedingt, versichert jetzt ein Forscherteam um den Archäologen Mark Collard von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby bei Vancouver - und bot nun auf der Konferenz der European Society for Human Evolution eine gruselige Alternativerklärung an.
"Es gibt zwingende Beweise dafür, dass diesen Menschen in Ritualen absichtlich die Finger amputiert wurden, um Hilfe von übernatürlichen Wesen zu erlangen", sagte Collard dem Guardian. Er wiederholt damit eine These, die er bereits vor einigen Jahren erstmals mit seinem Team formuliert hatte, die damals aber von der Fachwelt eher zurückgewiesen worden war. Deren Argument unter anderem: In der harten vorgeschichtlichen Zeit hätten Menschen mit beeinträchtigten Extremitäten kaum überleben können. Vielleicht waren die Handabdrücke einfach nur unvollständig? Oder es standen gar gestalterische Absichten dahinter?
Mit dem Ritual demonstriere man, dass man bereit sei, für die Gesellschaft zu leiden
Seitdem haben die kanadischen Wissenschaftler jedoch weitere Belege gesammelt. Sie verweisen unter anderem auf mittlerweile mehr als 200 bekannte Abdrücke, bei denen mindestens ein Finger fehlt. Wenn Erfrierungen der Hauptgrund dafür gewesen wären, hätte man entsprechende Spuren überall dort finden müssen, wo es im Paläolithikum schweren Frost gegeben hatte. Tatsächlich konzentrieren sich die beschädigten Handbilder erratisch auf wenige Höhlen Frankreichs und Spaniens. Hinweise auf lokale kulturelle Praktiken?
Dafür spräche, so die Forscher um Mark Collard, eine systematische Suche in ethnografischen Datenbanken. Dort fanden sie insgesamt 121 Gesellschaften, in denen Finger und Fingerglieder aus rituellen Gründen abgetrennt wurden - bis in die Gegenwart hinein. "Diese Praxis wurde offensichtlich viele Male unabhängig voneinander entwickelt", berichteten die Forscher, und zwar überall in der Welt. Sie fanden vier Orte in Afrika, drei in Australien, neun in Nordamerika, sechs in Asien. Selbst heute fände sich dieses Ritual noch, etwa beim indigenen Volk der Dani auf Neuguinea.
"Frauen lassen sich dort nach dem Tod eines geliebten Menschen, auch eines Sohnes oder einer Tochter, manchmal einen oder mehrere Finger abschneiden", erläutert Collard. "Wir glauben, dass die Europäer in der Altsteinzeit dasselbe getan haben." Auch wenn diverse Glaubenssysteme dahintergestanden haben mögen, gebe es vermutlich doch einen gemeinsamen Nenner aller körperlichen Opfer: Mit dem Ritual demonstriere man, dass man bereit sei, für die Gemeinschaft zu leiden. Damit erwerbe man das Recht, ihr anzugehören.
Fachkollegen bleiben dennoch bei einer skeptischen Einschätzung der neuen Amputations-Hypothese der Höhlenkunst. "Ethnografische Vergleiche reichen nicht aus, um Beobachtungen in der älteren Steinzeit zu erklären", warnt etwa der Ur- und Frühgeschichtler Andreas Pastoors von der Universität Erlangen-Nürnberg. Man dürfe nicht voreilig alle Funde und Befunde einer Kategorie, hier der Hände, einfach in einen Topf werfen und mit einer Erklärung versehen. Aus seiner Sicht wäre die Theorie ernst zu nehmen, wenn man in einer oder zwei Höhlen wiederkehrende Muster bei den einzelnen Individuen und dazu passende menschliche Fingerknochen mit Schnittspuren gefunden hätte.