Archäologie:Die ältesten Radspuren der Welt

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Zwei dunkle, längliche Verfärbungen stellen nach Ansicht von Archäologen die ältesten Radspuren der Menschheitsgeschichte dar. (Foto: Dieter Stoltenberg/CAU)

Archäologen sind überzeugt, in Flintbek bei Kiel die frühesten Rillen von Wagenrädern gefunden zu haben. Ist das Rad eine Erfindung aus dem Norden?

Von Jakob Wetzel

Hin und wieder hilft Archäologen das Glück. So geschehen etwa in Flintbek in Schleswig-Holstein, acht Kilometer südwestlich von Kiel. Wissenschaftler haben dort in den 1970er-Jahren ein urzeitliches Hügelgrab nach dem anderen entdeckt. Zusammen zählten sie mehr als 65 Hügel, angeordnet in einem vier Kilometer langen Bogen, eine gigantische Nekropole. Zwanzig Jahre lang gruben sie das Gräberfeld aus. Und in einem Hügel machten sie eine spektakuläre Entdeckung: Sie fanden zwei dunkle, parallele Linien im Boden, jede etwa sechs Zentimeter breit, im Abstand von etwas mehr als einem Meter, etwa 20 Meter lang. Es waren offensichtlich Spurrillen von den Rädern eines Wagens.

Es sind seit dieser Entdeckung einige Jahre ins Land gegangen, doch jetzt liegt die wissenschaftliche Dokumentation der damaligen Ausgrabungen vor (Doris Mischka: "Das Neolithikum in Flintbek"). Zwischenzeitlich hätten sich auch die technischen Möglichkeiten deutlich verfeinert, Funde zu datieren, sagt der Archäologe Johannes Müller von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Herausgeber der Reihe, in welcher der neue Band erscheint. In Flintbek habe es eine Menge zu datieren gegeben; das Gräberfeld gilt als einer der größten Megalith-Friedhöfe Europas. Doch nun könne man mit Gewissheit sagen, was damals mehr vermutet worden sei: Die Radspuren sind die ältesten, die jemals entdeckt worden sind. Sie stammen aus der Zeit zwischen 3420 und 3385 vor Christus. Andere bisher in Europa entdeckte Radspuren sind deutlich jünger.

Ist das Rad also doch nicht von den Sumerern in Mesopotamien erfunden worden oder von einem Steppenvolk in der heutigen Ukraine, wie in der Forschung häufig angenommen wird - sondern im Norden, nicht weit von der Kieler Förde? Doris Mischka zufolge ist das eher fraglich. Die Archäologin von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat früher von Kiel aus über Flintbek geforscht, sie hat die jetzt veröffentlichte Studie verfasst. "Es gibt Darstellungen, die älter sein könnten, und auch Radfunde aus Feuchtbodensiedlungen zum Beispiel aus der Schweiz, die älter sein könnten", teilt sie mit. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass im Norden noch ältere Radspuren entdeckt werden. Es ist auch möglich, dass das Rad an verschiedenen Orten der Welt jeweils sprichwörtlich neu erfunden worden ist.

Doch der Fund von Flintbek macht zumindest eines klar: Der Norden war nicht einfach eine rückständige Gegend, während anderswo die Hochkulturen blühten. "Es ist eindeutig, dass die Menschen in Mitteleuropa ebenso früh wie jene des Nahen Ostens hochtechnologisiert waren", sagt Johannes Müller. Flintbek sei damit "in das Zentrum einer der entscheidenden Innovationen der Menschheit" gerückt.

Der Karren pendelte wohl zwischen einem Grab und einer Feuerstelle hin und her

Die Wagenspur von Flintbek stammt aus dem Neolithikum, aus der Jungsteinzeit. In einem Zeitraum mehrerer Jahrtausende begannen die Menschen damals, sesshaft zu werden und sich statt vom Jagen, Sammeln und Fischen vom Ackerbau und von domestizierten Tieren zu ernähren. Und irgendwann begannen sie damit, Tiere vor Karren zu spannen. Davon sei auch in Flintbek auszugehen, sagt Müller. Rinder etwa habe es im Norden des heutigen Deutschlands nachweislich bereits ab etwa 4100 vor Christus gegeben. Anhand von Abnutzungsspuren an Rinderknochen sei gesichert, dass die Tiere als Zugtiere im Einsatz waren. Auf urzeitlichen Darstellungen, die in Polen gefunden wurden, werden Rinder mit Wagen in Verbindung gebracht. Und hauptsächlich ab etwa 3000 vor Christus gebe es in ganz Mitteleuropa vom Karpatenbecken bis hinauf nach Dänemark das Phänomen der Rinderdoppelbestattung, sagt Müller: Jeweils zwei Tiere wurden gemeinsam in einem Grab beerdigt. Es handle sich offensichtlich um Gespanne.

In Flintbek ist es Doris Mischka sogar gelungen, vorzeitliche Wege zu rekonstruieren. Der Wagen pendelte demnach zwischen einem mit großen Steinen errichteten Megalithgrab und einer Feuerstelle, über der Flintsteine auf etwa 400 Grad Celsius erhitzt und so geröstet wurden, bis sie zersprangen. Der krakelierte Stein wurde auf den Wagen geladen und zum Grab gezogen, wo mit dem Material dann der Boden ausgelegt worden sei, erklärt Müller. Es sei gut möglich, dass all das im Rahmen eines großen Festes geschah, ähnlich wie bei Kulturen, die noch bis in die jüngere Zeit Megalithgräber errichteten. Megalithgräber waren demnach Prestigebauten. Doch für die Wagenspuren entscheidender ist, was danach geschah: Kurz nach Abschluss der Arbeiten wurde über den Spuren ein Grabhügel aufgeschüttet. So füllten sich die Rillen mit dunklerer Erde - und nur deshalb sind sie erhalten geblieben. Andernfalls hätten die Archäologen die Rillen nach fünfeinhalb Jahrtausenden nicht mehr ausmachen können.

Wie sehr Wagen mit Rädern damals schon im Gebrauch waren? Johannes Müller ist zurückhaltend. Das Rad sei ja eine kaum zu unterschätzende Innovation gewesen, sagt er. "Wir stellen oft fest, dass wichtige Neuerungen zuallererst im rituellen Bereich eingesetzt werden", sagt er. Wirklich weit verbreitet seien solche Gefährte jedenfalls ab 3000 vor Christus gewesen, schrieb Doris Mischka bereits vor einigen Jahren in einer Studie zu den Radspuren. Doch womöglich werde in der Forschung auch unterschätzt, wie weit verbreitet Räder in neolithischen Gesellschaften waren. Hölzerne Dinge wie Räder würden die Jahrtausende eben vergleichsweise schlecht überdauern.

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