Biotechnologie:Antikörper ohne Tierleid

Lesezeit: 3 Min.

Antikörper, wenn man sie sehr stark vergrößert. Typisch ist die Y-Form. (Foto: imago/StockTrek Images)

Aus der Medizin sind Antikörper nicht mehr wegzudenken, doch für ihre Produktion müssen bislang Kaninchen, Mäuse und Schafe bluten. Dabei gibt es tierfreundliche Alternativen.

Von Andrea Hoferichter

Ein Mausklick, und Stefan Dübel präsentiert "eines der schönsten Moleküle der Welt". Mit andächtigem Blick lässt der Biochemie-Professor von der Technischen Universität Braunschweig das 3-D-Modell eines Antikörpers auf seinem Laptop-Monitor rotieren, ein Ypsilon-ähnliches Gebilde, grau und rot eingefärbt. Schon seit zig Jahren arbeitet er daran, diese komplexen Eiweißmoleküle im Labor herzustellen, ohne dass dafür Tiere leiden müssen. "Dieser Traum ist in Erfüllung gegangen", sagt er. Die veganen Antikörper werden seit dem Jahr 2019 über das Start-up Abcalis zu Forschungszwecken und für medizinische Tests verkauft. Kürzlich wurde es mit dem Tierschutzpreis der Europäischen Koalition zur Beendigung von Tierversuchen ausgezeichnet.

Antikörper sind überlebenswichtige Werkzeuge unseres Immunsystems, sie erkennen und markieren Krankheitskeime. Auch als Wirkstoffe in Medikamenten können sie heilsam wirken. Und weil sie nahezu perfekt zu dem Zielmolekül passen, für das sie produziert wurden, sind sie auch für die Wissenschaft interessant. Gespickt mit Farbstoffen können sie zum Beispiel helfen, Hormone oder Viren sichtbar zu machen, etwa in Schwangerschafts- oder Corona-Schnelltests.

Allein in Europa müssen jedes Jahr mehr als eine Million Tiere für die Antikörper-Industrie bluten

Allerdings müssen für die Produktion der potenten Biomoleküle bislang Hunderttausende Tiere regelmäßig zum Aderlass. Vor allem Kaninchen, Mäuse und Schafe werden für die Produktion genutzt. Wie viele genau, ist unklar. Allein in Europa seien es jedes Jahr mehr als eine Million Tiere, schätzt ein wissenschaftliches Gremium der EU, das dazu Produzenten befragt und Kataloge gesichtet hat. Höchstens ein Drittel davon sei realistisch, heißt es hingegen aus der deutschen Initiative "Tierversuche verstehen" mit Bezug auf Zahlen der Alures-Datenbank der EU, die allerdings ebenfalls nur indirekte Schlüsse zulassen. Besonders in der Kritik steht die sogenannte Maus-Aszites-Methode. Dabei wird die Antikörperproduktion in der Milz von Mäusen durch die Gabe von Wachstumsbeschleunigern noch einmal extra angekurbelt, laut der Alures-Datenbank der EU waren etwa 2018 rund 55 000 Tiere betroffen.

Als Student lernte Dübel diese spezielle Methode der Antikörperproduktion in Praktika kennen. "Der Bauch war fast größer als die Maus selber. Da haben wir gesagt: Das geht so nicht. Da zapfen wir uns doch lieber selber das Blut ab", erzählt er. Schließlich enthalte das menschliche Blut unzählige genetische Baupläne für Antikörper, die sich einfach nach dem Zufallsprinzip durch Mutationen bildeten. "In unserem Blut schwimmen Antikörper, die noch nie einen Krankheitserreger gesehen haben", sagt der Forscher.

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Gemeinsam mit einem Kollegen sammelte er Blutproben von etwa 100 freiwilligen Spendern aus allen Teilen der Welt, isolierte daraus Antikörperbaupläne und lagerte sie bei minus 80 Grad Celsius in einem Labor-Tiefkühlschrank. "Heute haben wir eine DNA-Bibliothek mit etwa zehn Milliarden menschlichen Antikörper-Genen. Man muss nur das jeweils passende 'Buch' heraussuchen." Das "Buch" enthält den genetischen Bauplan für Antikörper, die jeweils ein ausgewähltes molekulares Ziel erkennen können.

Das hierbei genutzte Verfahren wird Phagen-Display genannt. Die Protagonisten sind Viren mit besonderen Fähigkeiten, sogenannte Bakteriophagen. Sie wandeln die zehn Milliarden genetischen Baupläne aus der Antikörperbibliothek in ebenso viele verschiedene Antikörper-Oberflächenstrukturen um. Nun muss nur noch der Antikörper gefunden werden, der die gesuchte Zielstruktur, das "Antigen" erkennt. Das liefert dem Unternehmen Abcalis zum Beispiel der jeweilige Auftraggeber. Mithilfe dieses Antigens lasse sich das Virus mit dem passenden Bauplan "sozusagen herausangeln", sagt Abcalis-Geschäftsführerin Laila Al-Halabi-Frenzel. Die genetische Information des Phagen-Fangs schleust das Team schließlich in gezüchtete menschliche Zellkulturen, die anhand des genetischen Bauplans mit der Massenfertigung der gewünschten Antikörper beginnt. Das Produkt wird schließlich geerntet, gereinigt und für den Kunden abgefüllt.

Aktuell kosten die tierversuchsfreien Antikörper etwa doppelt so viel wie jene aus Tierblut

Nicht einmal ein Milliliter Antikörperessenz steckt in den bleistiftdünnen Plastikröhrchen, die das Unternehmen verschickt. "Diese kleine Menge ist unseren Kunden 1000 Euro wert", sagt Al-Halabi-Frenzel. Da die Methode noch jung sei, kosteten die tierversuchsfreien Antikörper zurzeit etwa doppelt so viel wie jene aus Tierblut. Allerdings hätten die Antikörper aus der Zellkultur nicht nur ethische, sondern auch qualitative Vorteile. "Unsere Antikörper sind chemisch definiert und lassen sich jederzeit reproduzieren."

Der Umstieg von Tier- auf Laborproduktion sei möglich und geboten, hieß es 2019 in einem Bericht des EU-Referenzlabors für Alternativen zu Tierversuchen. Das gelte nicht nur für den Einsatz von Antikörpern in der Diagnostik und Forschung, sondern auch in der Therapie. "Allerdings hat diese Empfehlung offenbar nicht einen differenzierten wissenschaftlichen Konsens wiedergegeben, sondern war zu einseitig und wohl auch politisch motiviert", sagt Roman Stilling von der Initiative Tierversuche verstehen. Es hagelte Kritik aus wissenschaftlichen Verbänden und der Industrie. Einschränkungen oder gar ein Verbot der tiergestützten Antikörperproduktion hätten Nachteile für die Forschung und den internationalen Wettbewerb zur Folge, so die Befürchtungen.

Auch der Braunschweiger Biotechnologe Dübel, der am wissenschaftlichen Teil des EU-Berichts beteiligt war, ist mit den abgeleiteten Empfehlungen nicht ganz einverstanden: "Sie waren mit uns Wissenschaftlern nicht abgesprochen, zumal unsere Recherchen den Einsatz in der Therapie gar nicht adressiert hatten." Die Furcht der Kritiker vor einem Verbot hält er aber für übertrieben. "Für einen Umstieg wären aktuell gar nicht genügend synthetische Antikörper verfügbar", betont er. Um der Sache einen Schub zu geben, müssten deren Vorteile noch bekannter werden. Immerhin bieten manche Firmen bereits heute parallel sowohl Antikörper aus Tierblut als auch synthetisch erzeugte an. "Beide Verfahren sollten in Sachen Qualität miteinander konkurrieren", sagt Dübel. "Dann wird Forschung nicht behindert, sondern gewinnt neue Möglichkeiten."

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