Forum:Das nächste Wirecard verhindern

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Europa braucht unabhängige Finanzaufsichtsbehörden - nicht nur in Deutschland.

Gastbeitrag von Sebastian Mack

Den Dax-Konzern Wirecard gibt es längst nicht mehr - der Insolvenzverwalter muss weiter um Geld für die Gläubiger kämpfen. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

"Wir hätten eine solche Situation überall erwartet - nur nicht in Deutschland": Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier war sichtlich überrascht, als die Wirecard AG im Juni 2020 einräumte, dass in ihrer Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlen. In Deutschland hat der Gesetzgeber nun kürzlich unter dem sperrigen Titel Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz erste Konsequenzen für die Aufsicht hierzulande gezogen. Doch Wirecard ist auch ein Weckruf, das europäische Aufsichtssystem auf den Prüfstand zu stellen. Unabhängigkeit von Regierung und Wirtschaft ist die Voraussetzung für eine funktionierende Finanzaufsicht in der EU. Deshalb gehört sie europaweit gesetzlich garantiert.

Interessenkonflikte stehen einer rigorosen Aufsichtskultur im Weg: Eine Aufsichtsbehörde, die der Regierung oder der Finanzindustrie zu nahe steht, schaut unter Umständen nicht genau hin, um den Unternehmenserfolg oder die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts nicht zu gefährden. Eine pro-aktive Aufsicht jedoch darf das Risiko eines zu frühen Einschreitens nicht scheuen, auch wenn dies zu unerwünschten wirtschaftlichen Konsequenzen oder Kritik aus den Reihen der Politik führen kann. Unabhängigkeit ist deshalb ein zentraler Grundsatz internationaler Aufsichtsstandards. Als man nach der Finanzkrise der EZB-Bankenaufsicht die Überwachung der größten Institute in der Bankenunion übertrug, schrieb man ihre Unabhängigkeit konsequenterweise gesetzlich fest.

Interessenkonflikte gefährden das Vertrauen

Für die Finanzaufsichtsbehörden in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten jedoch fehlen solche Anforderungen bislang. So ist in Deutschland die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) erstens dem Bundesfinanzministerium unterstellt, das über laufende Verfahren informiert wird und der Bafin auch Weisungen erteilen kann. Zweitens sitzen im Bafin-Verwaltungsrat die Geschäftsführer der Spitzenverbände von Banken, Versicherungen und Fonds, die beim Budget der Bafin mitreden dürfen. Zusammengenommen kann so der Eindruck entstehen, die Bafin würde industriepolitische Ziele der Regierung oder Wünsche der Finanzwirtschaft berücksichtigen und im Zweifel nicht hart durchgreifen.

Doch damit ist Deutschland nicht allein. Auch in anderen EU-Ländern gibt es Interessenkonflikte. Im Verwaltungsrat der französischen Banken- und Wertpapieraufsicht ist wie in Deutschland das Finanzministerium vertreten. In Italien sitzen aktive Bankmanager in den Entscheidungsgremien der Einlagensicherungssysteme. Die spanische Wertpapieraufsichtsbehörde kann selbst weder zusätzliche Beamtinnen einstellen noch Experten durch höhere Gehälter anwerben. In Österreich besitzt das Finanzministerium wie in Deutschland weitgehende Informationsrechte gegenüber der Finanzmarktaufsicht.

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Diese potenziellen Interessenkonflikte gefährden das Vertrauen der Investorinnen in den nationalen Kapitalmarktstandort - und darüber hinaus. Denn wenn sich in der europäischen Banken- und Kapitalmarktunion Behörden nicht auf eine unvoreingenommene Aufsicht im Nachbarland verlassen können, ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit kaum möglich. Vor allem aber kann die Nachlässigkeit der Aufsicht in einem EU-Mitgliedstaat beträchtliche Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten haben. So gelangten über die Danske Bank rund 200 Milliarden Euro schmutziges Geld nach Europa, weil die Aufseherinnen in Estland und Dänemark jahrelang geschlafen hatten. Und der Zusammenbruch von Wirecard kostete Investoren, Geschäftspartnern und Banken auch außerhalb Deutschlands Milliarden.

Für eine funktionierende Aufsicht der europäischen Finanzmärkte braucht es deshalb europäische Vorgaben für die Unabhängigkeit nationaler Finanzaufsichtsbehörden. In den europäischen Regeln zum Strombinnenmarkt oder für elektronische Kommunikation gibt es solche Vorschriften längst. Nun ist die Zeit gekommen, auch nationale Finanzaufseher von Interessenkonflikten zu befreien.

Erstens sollte sichergestellt werden, dass Aufsichtsbehörden strukturell unabhängig von Regierungsstellen und Wirtschaft sind. Dazu gehört insbesondere, dass die Mitglieder der Behördenleitung in einem transparenten Verfahren ausgewählt werden und nur aus objektiven, gesetzlich festgelegten Gründen entlassen werden können. Darüber hinaus sollten Vertreterinnen der Regierung oder der Finanzindustrie wichtige Entscheidungsgremien wie Behördenleitung oder Verwaltungsrat allenfalls nach einer mehrjährigen Abkühlungsphase besetzen dürfen.

Zweitens sollten Aufsichtsbehörden auch operativ unabhängig sein. Dies erfordert vor allem, dass Beamte keine Weisungen von Regierung oder Wirtschaft entgegennehmen dürfen und sie umgekehrt auch keine Informationspflicht über laufende Verfahren haben. Zudem sollten Aufsichtsbehörden möglichst frei über ihr Budget verfügen, um schnell auf neue Risiken reagieren und schlaue Köpfe anwerben zu können. Dadurch wäre sichergestellt, dass die Aufsicht über die nötigen Ressourcen verfügt, um ihr Mandat angemessen zu erfüllen.

Kontrolleure müssen auch mal unbequem sein

Drittens müsste die stärkere Unabhängigkeit durch zusätzliche Transparenz und Rechenschaftspflicht - idealerweise gegenüber dem Parlament - ausgeglichen werden. Dazu gehört insbesondere, dass die Aufsichtsbehörde regelmäßig über ihre Aufsichtspraxis Rechenschaft ablegt, die Öffentlichkeit über das Erreichen der Aufsichtsziele informiert und die Verhältnismäßigkeit ihrer Ausgaben kontrolliert wird. Dadurch wäre gewährleistet, dass die Aufsichtsbehörde ihrem gesetzlichen Auftrag nachkommt und ihre Unabhängigkeit nicht zum eigenen Vorteil ausnutzt.

Insgesamt würden diese Maßnahmen die Unabhängigkeit nationaler Finanzaufseher erheblich verbessern und damit die Voraussetzung für eine schlagkräftigere Aufsicht schaffen. Für eine rigorose Aufsichtskultur müssen die handelnden Akteure die ihnen eingeräumte Unabhängigkeit aber auch nutzen. Es braucht also Personen, die sich nicht auf die eigene Zuständigkeit zurückziehen, sondern die Missstände entschlossen angehen und auch mal unbequem sind. Nur dann gelingt der Bafin und anderen Aufsichtsbehörden der Wandel zur unerschrockenen Aufklärerin von Finanzskandalen wie Wirecard oder Greensill.

Um die Finanzaufsicht in ganz Europa zu stärken, sollte die EU-Kommission bald europäische Vorschriften zur Unabhängigkeit nationaler Finanzaufsichtsbehörden vorschlagen. Die Bundesregierung täte gut daran, diesen Gesetzesvorschlag aktiv einzufordern und zu unterstützen: damit sich ein Fall wie Wirecard nicht wiederholt - weder in Deutschland noch woanders in Europa.

Sebastian Mack ist Policy Fellow für Europäische Finanzmärkte am Jacques Delors Centre in Berlin. (Foto: oh)
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