Politische Wut gibt es bei Erwachsenen und bei Jugendlichen; Jugendliche neigen dazu, sie besonders impulsiv auszudrücken. Das war schon immer so: Da konnte man beispielsweise eine Mülltonne umstoßen und ihren Inhalt in Brand stecken.
Mit etwas Gespür für den richtigen Ort und die richtige Tageszeit kam man damit in die Zeitung, manchmal sogar ins Fernsehen. Wer es ernster meinte, der erreichte mit Blockaden aller Art viel Aufmerksamkeit, wenn nicht mehr.
Auch die Jugendlichen, die aus Wut über die Verhaftung des Wikileaks-Gründers Julian Assange Webseiten von Kreditinstituten, Internetkonzernen und Online-Händlern lahmlegen, reagieren aus einem solchen Impuls heraus. Mit dem Unterschied, dass ihre subversive Affekthandlung im Internet globale Bedeutung bekommen kann. Denn mit dem Fall Wikileaks hat die Subkultur der Hacker die Weltbühne betreten.
Diese Subkultur ist per se friedlich. Der Reiz, unerlaubt in fremde Computer einzudringen, wurzelt bei den meisten Hackern in einer Lust am Experiment. Nach dem ungeschriebenen Hacker-Kodex ist es verpönt, Schaden anzurichten, wenn man in fremde Netzwerke eindringt. Auch wenn die meisten versierten Hacker wohl über die Fertigkeiten dazu verfügen.
Aus dieser Subkultur ist nun ein beunruhigend wirksames Störwerkzeug in Umlauf gekommen - ein Programm mit dem Namen "Low Orbit Ion Cannon" (Ionenkanone in niedriger Erdumlaufbahn). Damit kann man auch ohne technische Computerkenntnisse einen "Distributed denial of service"-Angriff gegen eine Webseite starten. Der führt dazu, dass eine Webseite durch zu viele vermeintliche Anfragen außer Betrieb gesetzt wird.
Digitale Naturgesetze
Man ist nun erst einmal versucht, den Fall Wikileaks und seine Folgen verständlich einzuordnen. Doch weder ist Julian Assange ein romantischer Rebell noch ein anarchistischer Spion. Man kann die Internet-Aktionen des durch die neue Stör-Software rapide wachsenden Hackernetzwerkes auch weder mit dem zivilen Widerstand der Bürgerrechtsbewegung noch mit einem rasenden Mob vergleichen, an den jemand Handgranaten verteilt hat. Das Internet funktioniert nach seinen eigenen digitalen Naturgesetzen. Weil man die aber noch nicht versteht, gibt es für sie auch keine Regeln.
Wie schwierig es ist, Phänomenen im Netz Herr zu werden, zeigen die verzweifelten Versuche der amerikanischen Justiz, gegen Julian Assange vorzugehen. Bisher hat er gegen kein Gesetz verstoßen. Weil es kaum Gesetze gibt, die das Internet und die Freiräume, die es geschaffen hat, erfassen.
Solche Fälle zeigen, dass man sich den großen Fragen der digitalen Gesellschaft im 21. Jahrhundert nicht mit den Antworten des 20. Jahrhunderts nähern kann. Wenn eben statt der Mülltonne ein internationales Kreditinstitut umfällt, sind die Auswirkungen nicht abzusehen. Kettenreaktionen sind Teil der Faszination des Internets.
Innerhalb von Tagen oder Stunden können sie weltweite Aufmerksamkeit schaffen oder Wirkung zeigen. Darauf gründen sich die Welterfolge von humorigen Netzvideos, aber auch der rapide Aufstieg von Digitalfirmen.
Was von Werbung und Industrie als erhoffte Kettenreaktion gesucht wird, kann aber auch Kontrollverlust bedeuten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Teenager, die derzeit mit der digitalen Ionenkanone Webseiten internationaler Konzerne lahmlegen, langfristig Schaden anrichten.
Ihre Gegner sind selbst Hacker, die in den Diensten von Konzernen und digitalen Sicherheitsfirmen stehen. Solche Verteidigungs-Hacker haben bisher noch jeden digitalen Angriff abgewehrt und jeden neuen Computervirus in den Griff bekommen.
Die Politik allerdings wird die Gelegenheit nutzen, um zu versuchen, den Kontrollverlusten im Internet mit aller Macht zu begegnen. Die Gelegenheit ist günstig. Der Streit um ein so komplexes Thema wie das Urheberrecht oder die Scharmützel der Software-Soldaten in sogenannten Cyberkriegen sind für viele kaum nachvollziehbar.
Ein selbsternannter Vorkämpfer für radikale Informationsfreiheit, der Staatsgeheimnisse verrät, Teenager, die Internetauftritte von Weltkonzernen lahmlegen, und eine nebulöse Widerstandsgruppe mit dem Namen Anonymous sind jedoch der ideale Stoff, um daraus Szenarien weltweiter Bedrohung zu entwickeln.
Weltfremde Reaktion der Institutionen
Staaten und Konzerne werden wohl versuchen, die Freiheit im Netz so zügig wie möglich zu beschränken. Inwieweit ihnen das gelingen wird, ist schwer zu sagen. Politische und wirtschaftliche Institutionen des 20.Jahrhunderts werden in einem System des 21.Jahrhunderts aber ihre Machtbereiche nicht mit überkommenen Mitteln sichern können.
Wie weltfremd diese Institutionen oft reagieren, zeigen hierzulande der hilflose Umgang mit Google Street View oder der technisch nicht umsetzbare Staatsvertrag für Jugendmedienschutz. Das wird einen Generationenkonflikt zementieren.
Es wird eine Jugend geben, die immer neue Wege finden wird, ihre Wut im Internet nicht nur in Worte zu fassen, sondern auch in Taten umzusetzen. Das führt zu einem Wettlauf um die Vormacht im Netz, der so schnell nicht enden wird.