Dieselskandal:"Moralisch sicher kritikwürdig"

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Käufer manipulierter Dieselautos könnten ihr Fahrzeug grundsätzlich zurückgeben und den Kaufpreis teilweise zurück verlangen. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Nach beinahe fünf Jahren gibt es ein höchst­richterliches Urteil im Dieselskandal. Rechtswissenschaftler Michael Heese über Prozesstaktik, Lobbyismus und Martin Winterkorn.

Interview von Max Hägler und Angelika Slavik

Fast fünf Jahre nach dem Auffliegen des Dieselbetrugs bei VW hat der Bundesgerichtshof (BGH) am Montag entschieden, dass Autokäufer ein Recht auf Schadenersatz haben. Michael Heese, Rechtsprofessor an der Uni Regensburg, hat den Abgasskandal auch zum Gegenstand seiner Arbeit gemacht. Heese ist als einer der wenigen Juristen in dieser Sache nicht Partei - und fährt auch keinen Volkswagen.

Herr Professor Heese, warum hat es beinahe fünf Jahre gedauert bis zu dem Urteil?

Michael Heese: Für ein Verfahren, das durch drei Instanzen geht, ist das durchaus normal. Allerdings ging auch die Strategie des Konzerns erkennbar dahin, möglichst viele Käufer davon abzuhalten, ihr Recht durchzusetzen. Entscheidungen an einigen Oberlandesgerichten hat Volkswagen durch Vergleiche teils noch in letzter Minute lange Zeit hinausgezögert. Wenn die Rechtslage noch nicht höchstrichterlich geklärt ist und wenn deutlich wird, dass sich jeder einzelne Fall in die Länge zieht, schreckt das viele Betroffene ab. Dadurch werden Klagen entweder erst gar nicht erhoben oder man lässt sich auf einen schnellen Vergleich ein.

Aber es gab doch sehr viele Kläger.

In absoluten Zahlen schon, das war ein enormer Stresstest für unser Gerichtssystem. Die Zivilgerichtsbarkeit wurde mit tausenden gleich gelagerten Einzelklagen an ihre Belastungsgrenze gebracht. An manchen Gerichten entfielen zwei Drittel aller Neuzugänge des Jahres 2019 auf Fälle zum Dieselskandal. Dennoch hat nur ein kleiner Teil der Betroffenen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch genommen. Der manipulierte Motor EA 189 wurde allein in Deutschland in 2,4 Millionen Autos verbaut. Es dürften aber nur etwa 600 000 Diesel-Käufer gerichtliche Hilfe in Anspruch genommen haben. Insofern ist die VW-Strategie aufgegangen. Das ist moralisch sicher kritikwürdig, aber ökonomisch betrachtet nachvollziehbar.

Eigens für die Aufarbeitung der Dieselaffäre wurde die Musterfeststellungsklage eingeführt. Hat sie sich bewährt?

Leider nein. Die Musterfeststellungsklage ist in ihrer aktuellen Ausgestaltung viel zu ineffektiv und befördert gerade solche Verzögerungsstrategien. Mit einem Feststellungsurteil kann ein Betroffener nämlich unmittelbar noch nichts anfangen. Danach müsste jeder einzelne Geschädigte seinen konkreten Anspruch nochmals individuell einklagen. Das zermürbt die Betroffenen und damit kalkuliert ein Schädiger.

Aber es kam doch zu einem Vergleich.

Dieser Vergleich spricht aber nicht für die Funktionsfähigkeit des neuen Verfahrens. Man muss sich klarmachen, dass die Musterklage von der Einzelklage, über die der BGH nun entschieden hat, gewissermaßen rechts überholt wurde. Ohne den Druck der anstehenden BGH-Entscheidung, davon bin ich überzeugt, wäre es nicht zu diesem Massenvergleich gekommen.

War rückblickend betrachtet eine Einzelklage besser als eine Teilnahme an der Musterfeststellungsklage?

Nach meinem Eindruck ja. Allein schon, weil die Käufer zumeist sehr schnell ein erstinstanzliches Urteil erstreiten und daraus auch sofort vollstrecken konnten. Der Faktor Zeit spielte in diesen Fällen auch eine Rolle, weil der Schadensersatzanspruch eines Käufers wegen der von den Gerichten durchgeführten Nutzungsanrechnung zwangsläufig dahingeschmolzen ist.

Muss man das Gesetz nachbessern, damit Verbraucher sich besser wehren können?

Sinnvoll wäre eine Gruppenklage nach US-Vorbild, die alle Geschädigten automatisch einbezieht. Die Rechtsdurchsetzung für den Einzelnen wäre erleichtert und die Ressourcen der Justiz würden gebündelt.

Wieso gibt es das in Deutschland nicht?

Das ist ein Beispiel für gelungene Lobbyarbeit. Die Industrie warnt in diesem Zusammenhang immer wieder vor einer "Klageindustrie" und "amerikanischen Verhältnissen". Es ist zwar richtig, dass das US-Recht in diesem Kontext auch Übertreibungen kennt, die man nicht mitübernehmen sollte. Aber effektiver kollektiver Rechtsschutz als solcher gehört nicht dazu.

Welche Folge hat die BGH-Entscheidung denn für die anderen Dieselklagen?

Beim BGH sind allein Volkswagen betreffend weit mehr als 400 weitere Revisionsverfahren anhängig. Auch Fälle, die Daimler und BMW betreffen, sind anhängig. Durch dieses erste Urteil hat sich das Prozessrisiko für die Hersteller erhöht, auch in Fällen mit etwas anders gelagerten Sachverhalten. Allerdings bleibt abzuwarten, wie der Europäische Gerichtshof weitere Abschalteinrichtungen bewertet, insbesondere das sogenannte Thermofenster.

Darauf verweisen alle Autohersteller: Die Abgasregelung gibt es, weil der Motor bei Kälte sonst kaputt geht.

Nach einem ersten Votum einer Generalanwältin beim EuGH sind die Ausnahmen für zulässige Abschalteinrichtungen jedoch eng auszulegen. Allerdings folgt aus der Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung nicht automatisch eine zivilrechtliche Haftung. Es kommt weiter darauf an, ob sich der konkrete Einsatz als "sittenwidrige vorsätzliche Schädigung" darstellt.

In der Urteilsbegründung des BGH hieß es, der Vorstand müsse von der Schummelei gewusst haben. Muss sich deshalb also Ex-VW-Chef Winterkorn auf eine Verurteilung im Strafprozess einstellen?

Nein, denn in diesem Zivilverfahren kam es nicht darauf an, die verantwortlichen Personen aus dem VW-Management zu benennen und diesen konkrete Tatbeiträge zuzuschreiben. Da sich Volkswagen selbst zu den internen Vorgängen im Unternehmen trotz einer entsprechenden prozessualen Obliegenheit nicht äußern wollte, konnte das Gericht eine Managementverantwortung einfach unterstellen. Im Strafverfahren hingegen müssen individuelle Tatbeiträge nachgewiesen werden, um zu einer Verurteilung zu kommen.

© SZ vom 27.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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