Autoindustrie:Jetzt wird's persönlich

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Als er noch der mächtige VW-Vorstandschef war: Martin Winterkorn bei einer VW-Veranstaltung im März 2013. (Foto: JOHANNES EISELE/AFP)

In der Dieselaffäre will Volkswagen Schadenersatz von seinen früheren Top-Managern Martin Winterkorn und Rupert Stadler.

Von Max Hägler und Klaus Ott, München

Es ist eine Zahl, kaum fassbar für den durchschnittlich verständigen Menschen: 65 Petabyte Daten hätten Juristen gesichert im Zuge der Aufarbeitung des Dieselskandal, erklärte der Volkswagen-Aufsichtsrat am Freitag. Aus diesem Wust habe man 1,6 Millionen Dateien als relevant identifiziert, gesichtet und überprüft sowie über 1500 Interviews und Vernehmungen geführt.

Das Ergebnis dieser Arbeit: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn sowie Rupert Stadler, Ex-Chef der Tochterfirma Audi, hätten es an der Sorgfalt in der Aufklärung mangeln lassen, teilten die Unternehmenskontrolleure nach vielen Stunden der Debatte mit. Man werde die beiden ehemaligen Top-Manager nun, "wegen aktienrechtlicher Sorgfaltspflichtverletzungen auf Schadenersatz in Anspruch nehmen".

Wie hoch die Forderungen sind, ist noch unklar. Kenner des Sachverhaltes gehen davon aus, dass VW die ehemaligen Vorstände nicht im Übermaß belasten wolle, zumal das Unternehmen noch am Freitag in einer Nachricht an die Mitarbeiter ihre Verdienste gewürdigt hat. In den kommenden Wochen und Monaten soll dem Vernehmen nach ein außergerichtlicher Vergleich in der Sache ausgelotet werden, der dann von einer Hauptversammlung abgesegnet werden müsste.

Ein Vergleichsmaßstab könnte dabei Heinrich von Pierer sein: Der Ex-Chef von Siemens musste nach dem Auffliegen eines milliardenschweren Schmiergeldskandals fünf Millionen Euro an sein früheres Unternehmen zahlen. Was auch immer nun herauskommt: Der Betrag ist eher symbolischer Natur. Zum einen dürften die Ansprüche weitgehend abgedeckt sein von speziellen Manager-Versicherungen, sogenannten D&O-Versicherungen. Zum anderen liegt allein der messbare Schaden für den Volkswagen-Konzern mittlerweile bei mehr als 32 Milliarden Euro; auf diese Summe summieren sich Strafzahlungen an Behörden und Schadenersatzzahlungen an Kunden, die vor allem in den USA geleistet wurden.

2000 Seiten stark ist der Abschlussbericht

Gegenstand der Untersuchungen war, ob Winterkorn, Stadler und möglicherweise auch noch weitere damalige Führungskräfte vor dem Auffliegen der Affäre im September 2015 fahrlässige Management- und Kontrollversäumnisse vorzuwerfen sind - was letztlich die Manipulationen an weltweit Millionen von Deselautos ermöglicht oder zumindest nicht verhindert haben könnte. Die Kanzlei Gleiss Lutz führte die Untersuchungen, beriet den VW-Aufsichtsrat zu diesem Thema und legte in dieser Woche ihren Abschlussbericht vor. Das Unternehmen hält die 2000 Seiten starke Untersuchung unter Verschluss - bis auf die Einschätzung zu den beiden Top-Managern, die fahrlässig gehandelt hätten, ebenso wie vier nachgeordnete Manager.

"Nach Überzeugung des Aufsichtsrats" habe Winterkorn seine Sorgfaltspflichten verletzt, indem er es im Sommer 2015 unterließ, die Hintergründe des Einsatzes unzulässiger Softwarefunktionen aufzuklären. In den USA waren damals immer mehr Behörden-Nachfragen offenbar geworden, die sich letztlich bestätigten: Autos von VW hatten auf der Straße weit höhere Abgaswerte als auf Prüfständen. Am 27. Juli 2015 wurden beim sogenannten "Schadenstisch" diese Probleme diskutiert. Rupert Stadler wiederum habe seine Sorgfaltspflichten verletzt, weil er nach dem Auffliegen des Skandals Mitte September 2015 die Aufklärung der Manipulation unterlassen habe.

In einer Mitteilung erklärten die Rechtsanwälte von Winterkorn, Kersten von Schenck und Felix Dörr, ihr Mandant bedauere die Entscheidung des Aufsichtsrats. Er weise den gegen ihn erhobenen Vorwurf zurück und sei überzeugt, alles getan zu haben, um den Schaden zu mindern. Winterkorn war wegen der Vorwürfe im September 2015 von seinem Posten zurückgetreten. Sein Kollege Stadler wollte sich auf Anfrage nicht zu den Schadenersatzforderungen äußern. Er hatte aber zuletzt bei Gericht jede strafrechtliche Verantwortung zurückgewiesen.

Der Volkswagen-Konzern hat sich sehr viel Zeit gelassen für diese Entscheidung: Über fünf Jahre. Zum Vergleich: Beim Siemens-Schmiergeldskandal wurde von Pierer nach nicht einmal zwei Jahren in Regress genommen. Wieso dauert das bei VW so lange? Weil es eben so viel Material zu sichten gegeben habe, heißt es von Volkswagen nun. Dabei habe gegolten: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. "Die jetzt abgeschlossene Untersuchung war die mit Abstand umfangreichste und aufwändigste Untersuchung in einem Unternehmen in der deutschen Wirtschaftsgeschichte", so der Aufsichtsrat.

Der VW-Aufsichtsrat spricht immer noch von "Dieselkrise"

Wobei die Erklärung in Wolfsburg bislang vor allem lautete, dass man den Ausgang der Diesel-Strafprozesse abwarten wolle. Jener gegen Stadler hat im vergangenen Herbst in München begonnen; jener gegen Winterkorn soll - nach coronabedingter Verschiebung - in diesem Herbst in Braunschweig starten. Wie die Gerichte in den wohl über Jahre laufenden Verfahren entscheiden werden, ist offen.

Aber Volkswagen wollte offensichtlich nicht mehr warten, zumal das Ergebnis den beiden Ex-Managern auch nicht schaden dürfte: Eine fahrlässige Verletzung der Sorgfaltspflicht bei der Aufklärung wiegt weniger schwer als etwa das vorsätzliche Anstiften zur Tat. Man beende mit dieser Beratung und der Entscheidung nun die im Oktober 2015 eingeleitete Untersuchung der Ursachen und Verantwortlichen für den Dieselskandal, teilte der VW-Aufsichtsrat mit, der das immer noch "Dieselkrise" nennt: "Der Aufsichtsrat der Volkswagen AG zieht einen Schlussstrich unter seine Aufklärungsarbeit."

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