Verkehr:Das Bahn-Debakel

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Verspätungen und Ausfälle sind bei der Bahn an der Tagesordnung. (Foto: dpa)

Die Bahn war mal ein Symbol für Verlässlichkeit. Heute ist der Ausnahmezustand bei ihr häufig normal. Über einen Weltkonzern, der sich von seinen Passagieren entfremdet.

Essay von Markus Balser

Für Millionen Deutsche beginnt Weihnachten in diesen Tagen irgendwo an einem Bahnhof. Die Feiertage und Silvester gehören für die Bahn seit jeher zu den Phasen mit den meisten Fahrgästen im Fernverkehr. Wenn nicht noch ein kleines Wunder passiert, werden die Stationen in diesem Jahr allerdings vielerorts nicht nur zu Orten der Sehnsucht, sondern auch zu denen der Erkenntnis. Deutschlands Bahnhöfe zeigen, wie die Bahn sein könnte und wie sie oft noch ist, sie können Symbole der Moderne sein oder stinkende Baracken. Die Zuganzeiger an den Gleisen machen klar, wo derzeit das größte Problem des Konzerns liegt: in seiner schwindenden Zuverlässigkeit.

Seit Jahrzehnten steht die Bahn in Deutschland eigentlich für das Gegenteil: Sie symbolisiert Sicherheit, Sorgfalt und Verlässlichkeit. Weil sie bis in fast jeden Winkel des Landes fährt und in fast jeder Lebenslage ein Angebot für die Fortbewegung liefert: bei der Fernreise mit dem ICE, bei der Fahrt ins Grüne mit der Regionalbahn oder mit der S-Bahn ins Büro. Das Grundvertrauen hat auch damit zu tun, dass die moderne Gesellschaft Mobilität im vorvergangenen Jahrhundert mit der Entstehung der Bahn überhaupt erst gelernt hat - und noch vieles mehr.

In ihrer Entstehungszeit im 19. Jahrhundert verkürzte die Bahn die Reisezeiten in vielen europäischen Regionen drastisch. Sie wurde zum Transportmittel der industriellen Revolution, öffnete Gütern neue Märkte. Durch sie konnte sich die Schwerindustrie entwickeln. Sie selbst schuf einen enormen Bedarf an Eisen und Stahl. Der moderne Brücken- und Tunnelbau entstand, um Eisenbahntrassen zu bauen. Auch die moderne Aktiengesellschaft gilt als Folge des Kapitalbedarfs der Bahn.

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Der aktuelle Ärger in der Gesellschaft über die Unzulänglichkeiten des Systems macht klar, dass ihre Bedeutung nach wie vor weit über den reinen Transport hinausgeht. Die Bahn ist heute zwar nur noch Teil eines viel umfassenderen Verkehrssystems. Sie ist technisch eigentlich ersetzbar geworden durch Auto und Flugzeug. Und doch steht sie nach wie vor Pars pro Toto für den Zustand des gesamten Landes. Wird eine Schnellbahntrasse nach zwei Jahrzehnten eröffnet, ist das ein Signal des Aufbruchs, den wie selbstverständlich Hunderte Kameras, Feuerwerk und die Bundeskanzlerin begleiten; hat der Premierenzug Verspätung, berührt dies das Selbstverständnis der Nation. Das gilt gleichermaßen für die Statistiken, die erstaunlich viele Deutsche herunterbeten können.

Nicht wie geplant 82 Prozent der Fernzüge kommen halbwegs pünktlich an, also weniger als sechs Minuten zu spät; es sind nur noch peinliche 70 Prozent. Wer am Bahnsteig in Abschnitt A wartet, erfährt oft erst Minuten vor Abfahrt, dass der Einstieg für den gebuchten Sitzplatz sich ausnahmsweise in Abschnitt G befindet. Auch die Fahrzeugflotte ist in teils desolatem Zustand. Geschlossene Restaurants, verbarrikadierte Toiletten zeugen von einem Notstand bei der Wartung. Immer häufiger fallen Züge während der Fahrt aus. Der Ausnahmezustand wird auf Deutschlands Gleisen gerade immer häufiger zum Normalfall.

Man kann die Klagen über schlechten Service, überlange Fahrten und holprige Verbindungen für übertrieben halten - auch auf der Straße oder am Flughafen läuft nicht immer alles nach Plan. Doch die Ärgernisse schlagen wohl auch deshalb so hohe Wellen, weil Passagiere spüren und Fachleute wissen, dass sie Symptome einer viel tiefer liegenden Krise des Unternehmens sind. Denn das Debakel findet nicht nur auf dem Bahnsteig statt.

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Auch in der Bilanz gibt es Störungen im Betriebsablauf. Die Schulden der Bahn haben mit fast 20 Milliarden Euro einen Rekordstand erreicht - nur knapp unter der Schuldengrenze, die die Bahn sich selber gesetzt hat. Gleichzeitig gehen die Gewinne zurück. In dieser ohnehin schwierigen Lage stehen nun auch noch Milliardeninvestitionen in ersehnte neue Züge, die Digitalisierung des Unternehmens, in mehr Personal und ein weniger anfälliges Schienennetz an. Es geht in den nächsten Jahren dabei um einen zweistelligen Milliardenbetrag. Einen, den die Bahn sicher nicht alleine stemmen kann.

Die Bahn bricht Passagierrekorde, veranschlagt aber kein neues Personal

Wer wissen will, wie es so weit kommen konnte, muss sich diesen Konzern genauer anschauen. Die Bahn ist entgegen aller Klischees heute längst keine schläfrige Beamtenbahn mehr. Der Konzern ist ein hochkomplexes Unternehmen geworden, das täglich gewaltige internationale Verkehrsströme koordinieren und bewältigen muss. Aktiv ist der Konzern weltweit in über 130 Ländern, er beschäftigt weit mehr als 300 000 Mitarbeiter. Davon gut zwei Drittel in Deutschland. Die Bahn transportiert pro Jahr rund 271 Millionen Tonnen Güter auf der Schiene. Zusätzlich sind es rund 100 Millionen Sendungen auf Europas Straßen, 1,3 Millionen Tonnen Luft- und 1,2 Millionen Container an Seefracht. Und hier beginnen auch die Probleme, die nun die Passagiere ausbaden müssen.

Denn die Geschichte der Deutschen Bahn war in den vergangenen Jahren eine der rasanten Expansion, und das betraf viele Verkehrsmittel, nicht bloß den Zug. Inzwischen lässt die Deutsche Bahn Doppeldeckerbusse in London fahren, eine andere Bahn-Tochter steuert den Royal Train, den Hofzug des britischen Königshauses. Die Bahn verleiht auch Fahrräder in der Slowakei, sie betreibt Elektrobusse in Tschechien, sie baut eine neue Metro im australischen Canberra. Selbst an der Planung einer inzwischen fertigen Hochgeschwindigkeitsstrecke in Saudi-Arabien war sie beteiligt. Interne Charts notieren: "Mitarbeiteranzahl in Deutschland seit 2015 nahezu stabil - außerhalb Deutschlands kontinuierlicher Aufbau".

Man darf sich getrost fragen, wie das sein kann. Wie ein Konzern Jahr für Jahr im Heimatland Passagierrekorde bricht, mehr Züge auf nagelneuen Strecken verkehren lässt und dafür nicht mehr Personal veranschlagt. Wie das gleiche Unternehmen zwar Güter von der Straße auf die Schiene bringen will, gleichzeitig aber seit 2015 allein im Güterverkehr 1600 Stellen abbaut. Die Antwort ist einfach: Es lässt sich nicht verstehen. Und so muss die Führung der Güterverkehrstochter Cargo kurz vor Weihnachten Brandmails verschicken, weil es einen Rückstau von 110 Zügen gibt. Für die nach dem Sparprogramm verbliebenen Cargo-Mitarbeiter sind ruhige Feiertage nicht in Sicht. Für den 24. und den 26. Dezember sind Schichtverlängerungen um jeweils vier Stunden geplant.

Es fehlt fast überall bei der Bahn massiv an Personal und Zügen. Angeknackst ist deshalb nicht nur das Vertrauen der Passagiere, sondern auch das der Mitarbeiter. Verunsichert ist eine Belegschaft, die dem Unternehmen bislang so loyal verbunden war, wie das kaum ein anderes Unternehmen von sich behaupten kann. Dass bei der Bahn zuletzt im Tarifstreit so intensiv gestreikt wurde, ist auch eine Folge dieser Entwicklung.

Es passt vieles nicht mehr zusammen bei der Bahn. Die Fehlplanung liegt auch an fehlender Steuerung. Unterhalb des Vorstands agieren die Töchter für das Netz, den Güter- oder den Fernverkehr als eigene Aktiengesellschaft eigenständig und oft ohne jede Absprache. Ein Unding für ein System, dessen Räder ineinander greifen müssen. Der Bund hat mit der Bahnreform 1994 die Grundlage für dieses heutige Chaos geschaffen. Der einstige Staatsbetrieb wurde in Profitzentren zerteilt, die vor allem die eigenen Ziele im Blick haben.

All diese Entwicklungen enden für die Bahn in diesen Wochen in einem Dilemma. Denn eigentlich wären die Zeiten für eine Renaissance des Schienenverkehrs ideal. Noch nie war der Druck zum Umsteuern wegen Verkehrsproblemen auf den Straßen, schlechter Luft in den Städten und wachsenden Klimaproblemen so groß wie heute.

Die Zukunft der Mobilität ist zum ganz großen politischen Thema geworden. Es ist hipp, auf das Auto zu verzichten, mit dem Fahrrad am Stau vorbeizufahren. Die Bahn könnte sich gerade jetzt als Umweltvorreiter und Innovator empfehlen - und als Schlüssel zu einem Verkehrssystem der Zukunft. Sie könnte mit digitalen Angeboten eine neue Nähe zu den Kunden herstellen. Doch die Bahn wirkt angezählt. Und sie hat sich mit all den Problemen und schwacher Kommunikation weiter denn je von ihren Kunden entfernt.

Andere Länder machen vor, wie es gehen kann

Umsteuern kann eigentlich nur die Politik. Die Bahn ist zwar eine Aktiengesellschaft, aber die gehört zu hundert Prozent dem Staat. Doch die Politik blieb bei den Zielen, die sie der Bahn in den vergangenen Jahren vorgab, flatterhaft. Mal sollte es viel Gewinn, mal sollten es viele Passagiere sein. Die Bundesregierung hätte einen anderen Kurs des Konzerns verlangen können, etwa die Abkehr von der Konzentration auf das Auslandsgeschäft. Sie hätte einen neuen Kurs einleiten und Geld für zusätzliche Investitionen freigeben können. Doch sie hatte andere Prioritäten.

In den vergangenen 25 Jahren ist das gesamte Straßennetz in Deutschland von 640 000 Kilometer um knapp 40 Prozent auf fast 900 000 Kilometer angewachsen. Im selben Zeitraum wurde das Schienennetz um knapp 20 Prozent zurückgebaut. Auch der aktuelle Verkehrsminister Andreas Scheuer kümmerte sich bislang mehr um Autos als um die Bahn. Das änderte sich erst, als die Probleme unübersehbar waren. Die Bahn ist nun an einer entscheidenden Wegmarke angekommen. Sie muss sich in den nächsten Monaten stark verändern. Sie muss ihr Labyrinth aus 950 Gesellschaften lichten. Konzernchef Richard Lutz kündigte das alles gerade auch auf einer Führungstagung an. Dass die Führungskräfte nach der Veranstaltung noch immer darüber rätseln, wie er das tun will, spricht allerdings noch nicht für einen durchschlagenden Erfolg.

Andere Länder machen der Politik längst vor, was auch in Deutschland nötig wäre. Sie investieren bereits deutlich mehr in das Bahnfahren. In Deutschland werden pro Kopf der Bevölkerung gerade mal 69 Euro pro Jahr in das Schienennetz investiert. In Österreich sind es immerhin 187 Euro, in der Schweiz sogar 362 Euro. Doch eine funktionierende Bahn ist mehr wert. Sie muss mehr wert sein. Denn von einer schlechten Bahn wenden sich die Menschen ab.

© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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