Überwachung:Die Stadt, die niemals vergisst

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Rund um wichtige Gebäude, wie der BND-Zentrale in Berlin, ist man die lückenlose Beobachtung gewohnt. Im Alltag ist sie neu. (Foto: picture alliance / dpa)

Selbst die Laterne filmt alles: "Smart City" ist auch nur ein Schönrednerwort für den urbanen Überwachungsstaat.

Von Adrian Lobe

Das Fußballstadion ist ein soziales System, an dem sich einige gesellschaftliche Entwicklungen studieren lassen. Zum einen ist es ein seltsam rückständiges Soziotop, in dem sich gesellschaftlich längst geächtete Verhaltensmuster wie Affengeräusche oder rassistische und homophobe Sprechchöre bewahrt haben. Zum anderen ist es ein hochmodernes Habitat, wo Überwachungstechnologien erprobt werden, die mit zeitlicher Verzögerung im restlichen (halb)öffentlichen Raum in Betrieb genommen werden.

Bis zu 40 Kameras sind in modernen Fußballstadien installiert, die das Spielgeschehen aus verschiedenen Blickwinkeln aufzeichnen. In kniffligen Situationen kann der Schiedsrichter auf dem Platz den Videobeweis anfordern, die strittige Szene in der Wiederholung nochmals begutachten, und dann eine Entscheidung treffen. Gewiss, die Evidenz des Videobeweises ist begrenzt. Bei manchen Situationen kann man selbst in der fünften Wiederholung nicht abschließend klären, ob nun ein Handspiel vorlag oder nicht. Doch dieser Replay-Modus könnte sich in Zukunft auch auf das Stadtgeschehen erweitern.

An Bahnhöfen, in Parkhäusern, Banken, sogar in smarten Straßenlaternen versteckt befinden sich Kameras, die das Stadtgeschehen aufzeichnen. In China werden bis zum Jahr 2020 rund 626 Millionen Videokameras den öffentlichen Raum überwachen. Kamerabewehrte Datenbrillen, mit denen die Polizei in der Metropole Zhengzhou bereits Verdächtige in der Masse ausfindig macht, könnten in den Allgemeinbetrieb überführt werden und den Alltag der Menschen überwachen. Ganz zu schweigen von Handykameras. Und wenn künftig jeder Autofahrer mit einer Dashcam im Straßenverkehr herumfährt, rückt die Totalüberwachung ein Stück näher.

Was bisher eine Technik für den Sport war, wird Teil ständiger Rundumüberwachung

Saul Jaeger, der die Verkehrsabteilung der Polizei in Mountain View, dem Konzernsitz von Google, leitet, sagte dem Online-Magazin Ars Technica, dass das allsehende Roboterauto ein nützliches Werkzeug für Kriminalisten sei. Jaeger habe sich von der Qualität eines selbstfahrenden Autos der Google-Schwesterfirma Waymo persönlich überzeugt. "Es ist unglaublich", jubilierte der Polizist. "Es fühlt sich wie "The Matrix" an, wenn man den Schalter betätigt - es sieht alles, es sieht viel mehr, als ich oder Sie können. Und es trifft Entscheidungen." Jemand, dessen Job es sei, Unfälle zu rekonstruieren, könne von einer Maschine, die alles aufzeichne, nur träumen. "Ich dachte, ich wäre im Himmel", schwärmte er. "Es ist wie eine sofortige Wiederholung in der NFL." Die Idee der Kriminalisten: Man drückt einfach auf die Wiederholungstaste und schaut sich den Tathergang nochmals an, und zwar aus allen Kameraperspektiven, wie beim American Football.

Das US-Militär hat 2009 ein System namens Gorgon Stare entwickelt (das gorgonische Starren - benannt nach den Gorgonen, jenen Geschöpfen aus der griechischen Mythologie, bei deren Anblick die Opfer versteinerten), das mit Drohnenkameras ganze Städte aus der Luft überwachen soll. Ein Major der US-Luftwaffe sagte damals der Washington Post: "Gorgon Stare wird die ganze Stadt beobachten, daher gibt es für den Gegner keine Möglichkeit zu wissen, wohin wir schauen. Wir können alles sehen."

Wenn auf einem Markt eine Lkw-Bombe detoniert, könnte man auf den Videoaufnahmen einfach zurückspulen und den Anfahrtsweg des Lasters rekonstruieren und anhand dieses Bewegungsmusters auf den Täter schließen. Die Firma Harris Corporation, die Zeitlupen für American-Football- und Baseball-Partien produziert, hat gemeinsam mit dem Pentagon eine militärische Analyse-Software entwickelt. Das System namens "Full-Motion Video Asset Management Engine" greift auf Metadaten zurück, um Details wie Zeit, Datum und Kameraposition in jedem Videoframe zu codieren.

Eine Art Google für Überwachungskameras

Das Interessante an dem Phänomen ist, dass diese Überwachungstechnologien nicht aus dem Militär in den urbanen Raum importiert werden, wie der Stadtsoziologe Stephen Graham in seinem Buch "Cities Under Siege: The New Military Urbanism" argumentiert, sondern den umgekehrten Weg gingen und zunächst genuin für den Sport entwickelt wurden. Die Torlinientechnologie "Hawk-Eye" ist die Blaupause für Tracking-Systeme im öffentlichen Raum und könnte auch der Auswertung urbaner Alltagspraktiken zugeführt werden.

Das Problem bei der Kriminalitätsbekämpfung war bislang, dass man zwar jede Menge Videomaterial hatte, dieses aber manuell sichten musste. Künftig könnten Algorithmen diese Aufgabe übernehmen. Das Start-up IC Realtech hat eine intelligente Videosuchmaschine namens Ella entwickelt, in der sich in Videomaterial nach bestimmten Gegenständen suchen lässt. Eine Art Google für Überwachungskameras. Die Software, die im Kameranetzwerk installiert wird, teilt das Videomaterial in Metadaten auf und sendet es an einen "gesicherten" Server.

Dort werden die Metadaten von einem maschinell lernenden Algorithmus analysiert und in suchbare Informationsstücke zerlegt. In einem Suchfenster kann man einfach einen Begriff eingeben - zum Beispiel "roter Laster" - dann durchkämmt die intelligente Software das Videomaterial und identifiziert per Objekterkennung den gesuchten Gegenstand. Das Ziel ist es, dass man nach einer verdächtigen Person nicht mehr öffentlich fahndet, sondern einfach ein Fahndungsfoto in eine biometrische Datenbank hochlädt und künstliche Agenten den steten Stream an Videomaterial durchforsten lässt.

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In immer mehr US-Städten werden außerdem akustische Überwachungssysteme, sogenannte ShotSpotter, installiert, die Schüsse lokalisieren und automatisch die Polizei alarmieren. Wenn irgendwo ein Schuss fällt, zeichnen Sensoren das Geräusch auf. Mittels Dreiecksvermessung, einem Verfahren, bei dem die Laufzeit und Position der Schallquelle berechnet werden, wird der Schall geortet. In Städten wie Chicago, wo im Durchschnitt fast zwei Menschen am Tag erschossen werden, sind Schussdetektoren ein legitimes Mittel der Kriminalitätsbekämpfung.

Datenschützer sind allerdings besorgt, was die Außenmikrofone außer Schüssen sonst noch mithören. Laut einem Bericht der New York Times sollen die Schussdetektoren in der Stadt New Bedford im US-Bundesstaat Massachusetts einen lauten Streit auf der Straße aufgezeichnet haben, was über den eigentlichen Zweck der Hardware weit hinausginge.

Die Stadt, das Auto, die eigene Kleidung werden zu Aufnahmegeräten

Der Computerpionier Vannevar Bush entwickelte in seinem bahnbrechenden Aufsatz "As We May Think" aus dem Jahr 1945 die Vision eines "Memory Extender" (Memex), ein Gerät, auf dem die Bücher, Akten und die gesamte Kommunikation gespeichert sind. Jede beliebige Information, Bücher, Artikel, Fotos, Notizen würden "sofort und automatisch" aufeinander verweisen. Ein Knopfdruck genügte, und schon würden alle Pfade auf einer Projektionsfläche erscheinen. "Ganz neue Arten von Enzyklopädien werden entstehen", prophezeite Bush.

Mit dem Fortschritt der Computertechnologie sind solche Aufzeichnungstechniken möglich. Die Microsoft-Forscher Gordon Bell und Jim Gemmell haben in ihrem Buch "Total Recall" sowie in dem Experiment "MyLifeBits" die Möglichkeit einer totalen Erinnerungsgesellschaft aufgezeigt. Minikameras und Mikrofone an smarten Textilien, wie sie Google bereits entwickelt, könnten alles aufzeichnen, was der Träger hört und sieht - und jede Alltagssituation ex post einer Videoanalyse unterziehen.

Die Polizei könnte so anhand der GPS-Daten herausfinden, welche Personen sich zum Tatzeitpunkt am Tatort aufhielten und auf richterliche Anordnung sämtliche Video- und Audiodateien der Personen auslesen, und den Tathergang in der Wiederholung nochmals ansehen. Hat A den B beleidigt? Hat B den A getreten? Hat sich Zeuge C vom Ort des Geschehens entfernt? Wer hat um Hilfe geschrien?

Der Einsatz der Technik fördert vorauseilenden Gehorsam der Bürger

Die Frage ist nur, ob sich diese kriminalistische Utopie mit dem Gedanken einer offenen und freien Stadtgesellschaft verträgt. Steht die Rechtschaffenheit sozialer Interaktionen unter dem Vorbehalt einer Videoanalyse? Muss künftig jede Aussage und Aktion von algorithmischen Systemen beglaubigt werden, ehe sie im Computersystem der Stadt legitim ist?

Die Gefahr ist, dass der urbane Raum zu einem panoptischen System degeneriert, in dem sich Bürger in vorauseilendem Gehorsam normkonform verhalten und selbstzensorisch ihres Stadtrechts entäußern. Wer von einem Videobeweis "überführt" werden könnte, steuert Problemquartiere womöglich gar nicht mehr an. Oder meidet den öffentlichen Raum ganz.

Foucault schrieb in seinem Werk "Überwachen und Strafen" über die Insassen des Panopticons: "Er wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation." Der Bürger wird zum suchbaren "Wissensobjekt", dessen Trajektorien sich jederzeit Zeit zurückspulen lassen und dessen teils selbst produzierte Bilder ihn wie der Fauxpas eines Fußballprofis ein Leben lang verfolgen.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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