Noch ein letztes kurzes Video will Richard Gutjahr am 14. Juli aufnehmen, als er einen weißen Lkw bemerkt. Es ist kurz nach 22:30 Uhr, der Tag in Nizza ist fast vorbei. Das Video ist für Snapchat gedacht, eine App, bei der Menschen Videos hochladen können, die sich im Laufe von 24 Stunden automatisch löschen. Doch da ist dieser Lkw. Gutjahr entscheidet, doch die reguläre Kamera-Funktion seines Smartphones zu aktivieren und den Lkw zu filmen. Die Aufnahme dauert etwas mehr als 40 Sekunden.
Es ist eine Aufnahme, die weltweit bekannt wird. Sie wird in der Tagesschau gezeigt, im japanischen Fernsehen, auf CNN. Der Lkw beschleunigt und rast in eine Menschenmenge. Bei dem islamistisch motivierten Anschlag in Nizza sterben 86 Menschen. Gutjahr arbeitet als Journalist, in den kommenden Stunden und Tagen klingelt sein Telefon nonstop.
"Stehe vor dem #OEZ" - "zufällig?"
Mit dieser Aufnahme beginnt aber auch eine Geschichte, über die er öffentlich wochenlang schweigen wird in der Hoffnung, dass die Menschen das Interesse verlieren. Eine Geschichte, die viel verrät über die Macht von sozialen Netzwerken und die Kraft von Verschwörungstheorien.
Zu dieser Geschichte gehört, dass Gutjahr sich eine Woche nach der Tat von Nizza in München befindet. Einer seiner Arbeitgeber ist der Bayerische Rundfunk (BR). In aller Regel verbringt der Journalist deshalb zwei Wochen pro Monat in München, wo der Sender sitzt. Als es zu einem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum kommt, ist Gutjahr kurze Zeit später vor Ort. "Stehe vor dem #OEZ", twittert er. Eine der Reaktionen auf diese von ihm selbst mittlerweile gelöschte Botschaft lautet: "Zufällig?"
Es ist eine Frage, die in zahlreichen Videos auf Youtube und ähnlichen Plattformen mit "Nein" beantwortet wird. In diesen Videos, deren Überschriften Wörter wie "Hoax", "Mossad" und "Fake" enthalten, taucht Gutjahr als zentrale Figur beider Vorfälle auf, für Attentat und Amoklauf: Er ist dort Teil eines Komplotts, je nach Video ein Agent des israelischen Geheimdienstes oder aber jemand, der von diesem mit Informationen versorgt wird.
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Die Videos sehen aus wie eine Diashow, ein Standbild löst das andere ab. Bilder von Gutjahr, Familienmitgliedern, Szenen aus Nizza. "Inszenierter Terror" ist zu lesen, einen vermummten Soldaten sieht man, ebenfalls zu erkennen: die Türme des World Trade Center. Zehntausende Klicks pro Video, manchmal sogar sechsstellig.
Wie das aussieht, kann man zum Beispiel auf Youtube sehen. "Mittlerweile gibt es mehr als 120 Videos über mich, meine Tochter und meine Frau. Es werden wöchentlich mehr", erzählt der Journalist. Er sitzt in einem Café in Münchner Norden. Mitgebracht hat er einen Laptop und einen USB-Stick.
Nach wochenlangem Schweigen hat sich Gutjahr entschieden, über seine Erfahrungen zu reden. Interessant ist sein Fall auch deshalb, weil er als Experte für digitale Kommunikation gilt. Auf Medientagungen steht er auf Bühnen. Er ist einer, der gerne spricht, auch über sich selbst, und für seine Eloquenz bezahlt wird. In den Gesprächen über Nizza und München ringt er nach Worten.
"Zum Bastille-Tag sind wir nach Nizza gefahren, um uns das Feuerwerk anzuschauen. Wir haben uns ein Hotel direkt an der Küste gesucht." Bis vor Kurzem lebte er mit Frau und Kind in einem Vorort nahe der Stadt. "Wir haben ein Zimmer gefunden, von dem aus man die Parade und das Feuerwerk beobachten konnte", erzählt Gutjahr. Dort will er sein Kurzvideo für Snapchat drehen, dort sieht er den Lastwagen.
Gutjahr übermittelt dem BR das Video. Die Geschichte nimmt ihren Lauf
Er spricht von einem "Tumult", Menschen seien neben dem Lkw hergerannt. Ein paar Stunden zuvor war Gutjahr selbst draußen unterwegs. Er wusste, dass die Straße den ganzen Nachmittag gesperrt war. "Daher war es ungewöhnlich, dort einen Lkw zu sehen", erklärt Gutjahr. Er beginnt zu filmen. Warum genau, kann er selbst nicht sagen.
Die Originalaufnahmen lädt er nicht hoch, sondern übermittelt sie an öffentlich-rechtliche Sender, unter anderem den BR. "Dort sitzen Profis", twittert er. Sie sollen sein Material redaktionell bearbeiten und entscheiden, was gesendet wird. Gutjahr gibt währenddessen Interviews.
Um zwei Uhr nachts surft er auf Facebook und Twitter. Dort fällt ihm ein Tweet des BR auf. "Ich habe geklickt und konnte es nicht glauben. Die haben das Video ungekürzt hochgeladen", sagt Gutjahr. In der international bekannten Version hört eine seiner Aufnahmen nach 30 Sekunden auf. Was der BR auf Youtube zeigt, dauert zehn Sekunden länger. Dort zu hören ist Gutjahr, der auf Englisch schreit: "Es gibt einen Terrorangriff. Runter! Runter!" Zu hören sind auch Kinderschreie und eine weibliche Stimme, die schreit: "Wirklich?" Das Sender-Logo wird eingeblendet.
Die weibliche Stimme ist die von Einat Wilf, Gutjahrs Ehefrau. Sie ist Israelin, saß als Abgeordnete in der Knesset. Der Journalist ruft eine Person in hochrangiger Funktion beim BR in München an. "Ich habe dieser Person gesagt, dass in jeder Minute, in der das Video online ist, 100 Kopien davon gezogen werden." Er habe mit Nachdruck darum gebeten, das Video zu löschen, sagt er. "Ich möchte nicht, dass die Schreie meiner Frau und das Weinen meines Sohnes überall im Netz verbreitet werden." Gutjahr sagt, dass nach dem Gespräch zunächst nichts passierte. Eine Stunde später sei das Video dann entfernt worden.
"Das ging sofort in die antisemitische Verschwörungsecke"
Sigmund Gottlieb, Fernseh-Chefredakteur beim BR, teilt auf Nachfrage mit: "Richard Gutjahr hatte das Film-Material der Redaktion ohne einordnenden Hinweis auf seine Familie zur Verfügung gestellt." Den zuständigen Redakteuren habe nicht bewusst sein können, dass in dem Video Stimmen der Familie zu hören seien. "Erst als Herr Gutjahr dies der Redaktion mitgeteilt hatte, konnte diese entsprechend reagieren", schreibt Gottlieb weiter. Er sagt, dass er sich angesichts der "massiven Anfeindungen" vor Gutjahr stelle, "klar schützend".
Screenshots, die Gutjahr auf dem USB-Stick mitgebracht hat, zeigen Nutzer, die Tage später Standbilder aus diesem Video samt Namen seiner Frau twittern. Die Entscheidung der Redaktion, das Video in dieser Version hochzuladen, war offenbar Auslöser für die fixe Idee der Verschwörungstheoretiker. Sie gilt ihnen als erstes Indiz dafür, dass Gutjahr etwas geheim halten will. "Dieses Video war der Schneeball, der die Lawine ins Rollen gebracht hat", sagt Gutjahr. "Dadurch, dass meine Frau als Jüdin identifiziert wurde, ging das sofort in die antisemitische Verschwörungsecke."
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Grund dafür dürfte sein, dass Wilf im israelischen Militär, das für Frauen ab 18 Jahren verpflichtend ist, als Geheimdienstoffizierin arbeitete. Dieser fast zwei Jahrzehnte zurückliegende Dienst wird in praktisch allen Videos erwähnt und soll Gutjahr in der Logik der Verschwörungstheoretiker als Spion enttarnen. Dass er zum Zeitpunkt des Anschlags bereits seit Monaten in Nizza lebte, spielt in dieser Logik keine Rolle.
"Die 'Mossad-Connection' gab es schon nach Nizza. Aber nach München ging es dann so richtig los", sagt Gutjahr. Erstens: seine Frau. Zweitens: "Schon wieder ich vor Ort." Drittens: Auch seine Tochter ist zu dieser Zeit, während ihrer Semesterferien, in ihrer Heimatstadt München. Sie ist in der Nähe des OEZ, erfährt von Menschen, die ihr entgegenrennen, von den Schüssen und geht zurück in die Wohnung ihrer Oma, in der sie "seit kleinauf ihre Freitag-Nachmittage" verbringt, wie Gutjahr sagt. Sie ist es auch, die ihren Vater anruft. "Ich wollte mich erst einmal um meine Tochter kümmern", sagt dieser.
Zu dieser Zeit habe er sich im Auto befunden, in der Nähe des OEZ, auf dem Weg zum BR. "Als meine Tochter gesagt hat, dass sie in Sicherheit ist, bin ich auf den Reportermodus umgeschwenkt und habe angefangen, zu arbeiten. Ich kam erst an, als die Schüsse schon gefallen waren."
In den Youtube-Videos werden beinahe alle Aussagen von Gutjahr und seiner Tochter analysiert. Es entsteht ein Brei aus Unterstellungen, Zahlen und Halbwissen. Zwei Beispiele: Der OEZ-Tweet, den Gutjahr absetzte und später löschte, trägt in einer Version auf einer britischen Webseite einen Zeitstempel von 17:50 Uhr. Das wären zwei Minuten, bevor die ersten Notrufe bei der Polizei eingegangen sind. Tatsächlich wurde der Tweet aber um 18:50 Uhr geteilt, also eine Stunde später. So steht es in den Metadaten. Es ist der Zeitunterschied zwischen Großbritannien und Deutschland, kein Anhaltspunkt für Unsauberes.
Zweitens wird in einem der Videos behauptet, dass die Autofahrt zum Hauptsitz des BR nicht über das OEZ und damit den Mittleren Ring führe, sondern über die Innenstadt. Was der Macher des Videos nicht zu wissen scheint: Das Fernsehstudio des BR, dort arbeitet Gutjahr, liegt im Stadtteil Freimann. Der Weg dorthin führt sehr wohl über den Mittleren Ring. "Ich arbeite seit 15 Jahren beim BR und fahre immer die gleiche Strecke", sagt Gutjahr.
Gutjahr erhält Drohungen, per Mail, Twitter, Youtube-Videos und Facebook. Er versucht, die Youtube-Videos sperren zu lassen. Da für sie mitunter sein Material verwendet wurde, setzt er zunächst auf das Urheberrecht. Einige Videos werden gelöscht, Nutzerkonten gesperrt.
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Es ist schwierig, Hilfe von Youtube zu bekommen
Gutjahr erstattet Anzeige bei der Polizei, auch weil ihm Mitarbeiter von Youtube Deutschland dazu geraten haben. "Ich habe gedacht, dass die Polizei mich nach Hause schicken und erst gar keine Anzeige aufnehmen will. Aber sie war nach München sehr sensibilisiert und hat diese Videos sehr ernst genommen", sagt Gutjahr. Der SZ wollte die Polizei nichts zu dem Fall sagen.
Doch von Youtube-Mitarbeitern hört er bald, dass nach Prüfung der Videos keine konkreten Drohungen gegen ihn festgestellt werden konnten. Gutjahr sagt, er habe Mails mit konkreten Drohungen erhalten. Sie gingen an eine Adresse, die er ansonsten nicht verwende und die das Netzwerk im Rahmen der Prüfung an eben jene Personen übermittelt habe, deren Videos Gutjahr sperren lassen wollte.
Gutjahr findet die Aktion von Youtube feige. "Ich glaube nicht, dass man da nicht noch mehr machen könnte." Wenn es um Geld gehe, bei Urheberrechtsverletzungen von Musiklabels etwa, lege Youtube das Gesetz sehr eng aus. Wenn es aber um üble Nachrede und Verleumdung gehe, interessiere es das Unternehmen anscheinend wenig. "Sie machen ja weiterhin Geld mit diesen Videos."
Auf Nachfrage erklärt Youtube, dass man sich zu Einzelfällen nicht äußere. Man habe sich aber auch in diesem Fall "sehr intensiv mit den Beschwerden befasst, jedes einzelne Video wurde begutachtet".
Gutjahr sagt: "Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich habe gelernt, dass es nichts bringt, nichts zu machen." Die Nutzerkonten, auf denen er verleumdet wurde, sind wieder entsperrt. Dort finden sich neue Videos. Eines ihrer Themen: Richard Gutjahr und der Mossad.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, dass Richard Gutjahrs Video in Nizza um kurz nach 23 Uhr gefilmt wurde. Richtig ist: Das Video wurde kurz nach 22:30 gedreht. Der Artikel wurde entsprechend aktualisiert.