Nirgendwo auf der Erde leben mehr Dollarmilliardäre als in China, die Mehrheit von ihnen übrigens im versmogten Peking - der neuen Welthauptstadt der Reichen. In kaum einem Land ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß. Wer Geld hat, kann sich die Krankenversorgung und die Ausbildung für die Kinder leisten, ein Auto und eine Wohnung kaufen. Wehe dem, der kein Geld hat in dieser Volksrepublik.
Ist das jetzt ein kapitalistisches oder ein kommunistisches Wirtschaftssystem? Fragt man chinesische Diplomaten, beteuern die, dass China längst eine Marktwirtschaft sei und deshalb auch den entsprechenden Status von der EU verliehen bekommen müsse. Fairer Wettbewerb, ein Rechtsstaat, in dem ein geschlossener Vertrag gilt, all das gibt es aber nicht. In China ist vieles anders als in Europa - aus guten Gründen, sagen Pekings Höflinge.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in China eine Form des Kapitalismus herausgebildet, die einzigartig und voller Widersprüche ist. Es geht um Profit, es gibt Börsen und Banken, und dennoch kontrollieren die Kommunistische Partei und ihr Apparat, was im Land vor sich geht. Die großen Konzerne sind noch immer in Staatshand, gelenkt von Funktionären einer Kaderorganisation. Es ist ein Kapitalismus leninistischen Typs.
Jahrelang waren die Rollen in der Weltwirtschaft klar verteilt
Die Chefs der wichtigsten Banken stehen allesamt im Rang von Vizeministern. Sie entscheiden - notfalls per Dekret -, wer Kredite bekommt und wofür. Für Auslandsakquisitionen steht derzeit sehr viel Geld bereit.
Jahrelang waren die Rollen in der Weltwirtschaft klar verteilt. In China wird gefertigt, in den Industrienationen entwickelt, erdacht und getüftelt. Vor allem für deutsche Unternehmen schien das eine fast perfekte Symbiose zu sein. Maschinen gegen Turnschuhe. Doch das ändert sich. Aus Partnern werden Wettbewerber.
Das chinesische Wachstumsmodell ist an seine Grenzen gestoßen. Der Export legt nicht mehr zu, und die Binnennachfrage reicht noch nicht aus, um die Wirtschaftsleistung Jahr für Jahr um sechs oder sieben Prozent zu steigern. Die Notlösung: staatliche Investitionen. Neue U-Bahnen, ein Hochgeschwindigkeitszugnetz und sehr viele Wolkenkratzer.
China hat einen Masterplan für Innovation und technischen Fortschritt
Als 2008 die Olympischen Spiele in Peking stattfanden, lag die Gesamtverschuldung der Volksrepublik, also die gewährten Kredite für Unternehmen, private Haushalte und den Staat, bei etwa 145 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Inzwischen dürften es nach Schätzungen von Analysten mehr als 250 Prozent sein. Da sich die chinesische Wirtschaftskraft in den vergangenen acht Jahren aber mehr als verdoppelt hat, muss sich die Schuldenlast in absoluten Zahlen vervierfacht haben. Und das Geldausgeben hält an. Lange geht das nicht mehr gut. Chinas Wirtschaft muss deshalb innovativer werden.
Wer das chinesische Dilemma verstehen möchte, kann sich einmal sein Smartphone genauer ansehen, zum Beispiel das iPhone von Apple. Jedes einzelne Gerät wird in der Volksrepublik gefertigt. Doch technisch steckt nichts aus China in dem Telefon. Designt wurde es in Kalifornien, auch die Software schreiben Programmierer im Silicon Valley. Das Display und den Speicher baut Samsung in Südkorea. Der Empfänger und die Mikrofone kommen aus Deutschland von Infineon. Andere Komponenten haben Firmen aus Italien, Frankreich und Japan entwickelt. In China werden die iPhones lediglich zusammengesetzt. Bei einem Verkaufspreis von 600 Dollar entfallen genau 6,54 Dollar auf die Produktion. Und selbst die wird von einem ausländischen Unternehmen koordiniert: von Foxconn aus Taiwan.
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Schneller als Containerschiffe, günstiger als Luftfracht: Güterzüge bringen Waren aus China nach Deutschland. Genauer: nach Duisburg zum Rheinhafen.
Das nächste iPhone aber, die nächste disruptive Technologie soll aus China kommen. Wie die Führung in Peking das anpacken möchte, ist fast schon gruselig: "Made in China 2025" heißt der Masterplan. Zehn Branchen haben sich die Kader herausgesucht, fast alle technischen Felder decken sie ab. Autos und Züge, den Flugzeugbau, die digitalisierte Produktion oder die Pharmaindustrie - überall soll China schon bald Weltspitze sein. Mindestens acht von zehn Elektroautos, die in neun Jahren in der Volksrepublik verkauft werden, sollen dann aus heimischer Produktion stammen.
Die einzige Chance, das zu schaffen, bieten Zukäufe. Im Fokus stehen Technologienationen wie die USA, Japan oder Deutschland. In Japan hat es bisher noch keine nennenswerten Deals gegeben, der Markt ist stark abgeschottet. Offener sind die USA, allerdings greifen auch dort die Behörden regelmäßig ein. In Deutschland aber haben die Zukäufe massiv zugenommen: 2000 Prozent Steigerung im Vergleich zum Vorjahr. Kuka, Aixtron, Osram, das sind die Ziele. Das ist aber nur der Anfang, auch bei etlichen Dax-Konzernen haben chinesische Unternehmer in den vergangenen Monaten angeklopft. Ganze Branchen sollen übernommen werden.
Das europäische Kartellrecht urteilt nicht nach Herkunftsländern, lediglich Marktanteile von Unternehmen werden bewertet. Wenn wie im Fall von Kuka ein branchenfremdes Unternehmen bietet, das Haushaltsgeräte fertigt und keine Roboter, geht der Deal durch. Wenn dann für die Wettbewerber zum Beispiel eine chinesische Reederei und danach ein Textilkonzern ihre Offerten vorlegten, wäre das auch kein Problem. Finanziert und koordiniert werden die Deals aber zentral. So ist das im leninistischen Kapitalismus.
Kleinbetriebe waren Chinas Wachstumsmotor in den 90ern
Aus chinesischer Perspektive ist "Made in China 2025" logisch. Die gesamte Wirtschaftspolitik folgt seit Jahrzehnten einem Plan. Reformpatriarch Deng Xiaoping beschrieb seine Öffnungspolitik einst bildreich: Er versuche den Fluss zu überqueren, indem er vorsichtig nach Steinen im rauschenden Wasser suche. Wer zu rasch ans andere Ufer will, der scheitert. Russland zum Beispiel soff ab. Nach seinem Wahlsieg führte Boris Jelzin quasi über Nacht die Marktwirtschaft ein. Das Resultat war verheerend. Statt zu wachsen, sank das russische Bruttoinlandsprodukt zwischen 1993 und 1998 jährlich um 5,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg, Millionen Russen waren plötzlich arm. Einige wenige nutzten die Wirren und wurden unfassbar reich.
Als Deng Chinas Wirtschaft wieder an den Weltmarkt koppelte, lebten mehr als 80 Prozent der Chinesen auf dem Land. Sie waren Bauern und wurden bald Arbeiter. Deng genehmigte den lokalen Behörden, ländliche Gemeinschaftsfirmen zu gründen. Aus Bürgermeistern wurden Manager. Diese Kleinbetriebe waren Chinas Wachstumsmotor bis Mitte der 90er-Jahre. Als erfolgreich erwies sich auch Dengs Festhalten an der staatlichen Planwirtschaft; er modifizierte sie nur leicht. Weiterhin mussten Bauern und Fabriken Quoten erfüllen. Für die Quote galt ein fester Preis; wurde die vorgegebene Marge allerdings erreicht, war der Preis liberalisiert. Diese einfache Reform stimulierte die Landwirtschaft und steigerte die Produktion. Zwischen 1981 und 1990 veränderte der Staat etwa die Quote für Stahl kaum, die Produktion verdoppelte sich trotzdem.
In den 90er-Jahren kamen ausländische Direktinvestitionen hinzu. Kein Land der Welt zieht so viele ausländische Investoren an wie China. Und niemand verhandelt dabei so geschickt wie die Chinesen. Hersteller, die in der Volksrepublik produzieren wollten, mussten mit einer chinesischen Partnerfirma ein Joint Venture gründen. Die Gewinne wurden geteilt, mussten aber zum Großteil im Land bleiben. Die Folge: weitere Investitionen. Für Schlüsselindustrien wie die Autobranche gilt das bis heute - ohne chinesischen Partner geht nichts.
Lange nahmen die Unternehmen aus Europa und den USA die chinesischen Eigenheiten hin. Die Volksrepublik ist schließlich der größte Markt der Welt. Inzwischen aber werden die Hemmnisse in China von Monat zu Monat größer: neue Gesetze, die das Geschäft unmöglich machen. Oder ein plötzlicher Zwang, alle Betriebsgeheimnisse weiterzugeben. Leninistischer Kapitalismus eben.
Wie tritt man einem solchen System gegenüber? Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel war in den vergangenen Tagen in China und er hat dort die Sorgen und Nöte der deutschen Industrie lautstark angesprochen. Auf europäischer Ebene will Gabriel die Regeln verschärfen, denn das deutsche Außenhandelsgesetz ist stumpf.
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In China nimmt die Zahl der Milliardäre unaufhörlich zu. Anderswo hingegen verlieren die Superreichen Geld.
Chinas Staatskapitalismus kann aber auch sehr attraktiv sein. Spricht man mit Unternehmenslenkern in Deutschland, haben viele von ihnen nichts gegen einen chinesischen Eigentümer, ja manch einer wünscht sich gar einen Investor aus der Volksrepublik. Für Manager, die es gewohnt sind, von Quartal zu Quartal zu hecheln, sind vier, fünf Jahre ungestörte Arbeit, die ein chinesischer Konzern garantiert, eine Traumvorstellung. Im Einzelfall ist das sehr nachvollziehbar, für den Standort Deutschland kann das aber zur Gefahr werden. Nämlich dann, wenn ganze Branchen von chinesischen Unternehmen übernommen werden und später einmal verdeckt Monopole gebildet werden.
Peking hat die Halbleiterindustrie als eine Schlüsselindustrie ausgemacht
Wenn Europa eine Chance in diesem Wettstreit haben möchte, muss es sich den strategischen Ansatz Chinas zu eigen machen. Ein europäischer Plan muss nicht auf Biegen und Brechen erfüllt werden wie die chinesischen Vorgaben. Aber es muss eine industriepolitische Strategie her, die sich am chinesischen Ansatz orientiert.
Die Führung in Peking hat zum Beispiel die Halbleiterindustrie als eine Schlüsselindustrie ausgemacht. Etwa 19 Milliarden Dollar investiert der chinesische Staat direkt. Weitere 100 Milliarden werden über Regionalregierungen und Privatinvestoren bereitgestellt. Wer Unternehmen wie Aixtron, Osram oder Infineon in Europa halten möchte, muss etwas bieten.
Das gilt auch für andere Branchen, etwa die Batterietechnologie. Von ihr hängt im Wesentlichen der Erfolg der Elektromobilität ab, und genau auf diesem Feld möchte China die Marktführerschaft übernehmen. Der Elektromotor ist weitgehend entwickelt, den Unterschied machen die Batterien. Anständige Reichweite oder ständiges Nachladen? In Europa gibt es keine nennenswerten Hersteller mehr, die nach einer Lösung suchen, sie kommen aus Südkorea und natürlich aus China, dem Land des Kaderkapitalismus.