Bis zu welchem Alter sollen die Menschen arbeiten? Und dürfen sie nach einem langen Leben in Arbeit früher in den Ruhestand gehen und trotzdem die volle Rente beziehen? Diese Fragen zählen zu den umstrittensten der deutschen Sozialpolitik. Denn die Herausforderung, wie der Lebensunterhalt der mehr als 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner finanziert werden kann, wird immer größer. Die Zahl der Rentner steigt stärker als die Zahl der Beschäftigten, die deren Lebensunterhalt mit ihren Sozialbeiträgen und Steuern finanzieren, die Arbeitnehmer müssen immer mehr Ruheständler finanzieren.
Politiker aus den Reihen der Ampel-Parteien und der Union sowie Fachleute fordern deshalb, das Renteneintrittsalter weiter heraufzusetzen. Derzeit liegt die gesetzliche Altersgrenze bei etwas über 66 Jahren, bis 2031 steigt sie auf 67 Jahre. Diskutiert wird zudem eine Abschaffung der "Rente mit 63", die es Versicherten nach 45 Beitragjahren erlaubt, ohne Abschläge in Rente zu gehen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte Ende Dezember die Regelung kritisiert. "Ein Großteil derer, die früher in Rente gehen, sind gesund, verdienen gut - und sind eigentlich leistungsfähig", sagte er. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel, hatte zuvor gefordert, die Rente mit 63 dürfe "kein Tabu sein". Die Altersgrenze für diese Regelung steigt bis zum Jahr 2031 ebenfalls an und liegt derzeit bei 64 Jahren.
Ältere gehen deutlich häufiger arbeiten als früher
Nun gibt die Antwort des Bundessozialministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der Linken im Bundestag der Debatte neue Nahrung. Demnach ist die Zahl der Menschen, die am Ende ihres Erwerbslebens oder zu Beginn der Rente arbeiten, in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Laut Bundessozialministerium nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig und der geringfügig Beschäftigten im Alter von 63 bis einschließlich 66 Jahren zu, von 1,32 Millionen im Jahr 2020 auf 1,67 Millionen im vergangenen Jahr. Das ist ein Anstieg binnen weniger Jahre um 26,2 Prozent. Deutschlands Ältere gehen deutlich häufiger arbeiten als noch vor wenigen Jahren.
Noch lässt sich nicht klar sagen, was diese Entwicklung bewirkt hat. Denkbar sind mehrere Faktoren, die in den vergangenen Jahren eine Rolle spielten. So ist das gesetzliche Renteneintrittsalter weiter gestiegen und zwar um einen Monat pro Jahr. Dies war jedoch auch schon in den Jahren zuvor der Fall. Zudem haben Ruheständler bessere Möglichkeiten, sich etwas hinzuzuverdienen, ohne dass dies auf ihre Rentenzahlung angerechnet wird. Wer 2019 mehr als 6300 Euro pro Jahr verdiente, dem wurde die Rente gekürzt. Im Zuge der Corona-Pandemie hob der Gesetzgeber diese Grenze an auf 44 590 Euro, Anfang vergangenen Jahres fiel sie ganz weg. Seither können Ruheständler erwerbstätig sein, ohne dass ihnen dies auf die Rente angerechnet wird. Einfluss haben könnte auch, dass die Seniorinnen und Senioren gesünder sind, dass sie Lust haben, länger zu arbeiten - oder, dass ihre Rente so klein ausfällt, dass sie sich etwas hinzuverdienen müssen, um ihren Lebensstandard zu halten oder ihre Miete zahlen zu können.
In diese Richtung argumentiert Matthias Birkwald. Der Rentenexperte der Linken im Bundestag hatte die Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Ältere Menschen dürften nicht gezwungen sein, aufgrund ihrer niedrigen Rente weiter arbeiten zu müssen, erklärt er. Die Realität sehe jedoch bei vielen Menschen anders aus, fast jeder Zweite über 65 habe nur ein "äußerst bescheidenes Nettoeinkommen von unter 1250 Euro zur Verfügung", schreibt Birkwald mit Verweis auf Daten des Statistischen Bundesamtes.
Arbeitsminister Heil lehnt eine Rente mit 70 ab
Birkwald wertet die Zahlen zur steigenden Beschäftigung älterer Menschen als Beleg dafür, den Menschen weiterhin einen vorzeitigen Renteneintritt ohne Abschläge zu ermöglichen und das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht weiter zu erhöhen. "Ständig hört man Forderungen über die Anhebung der Regelaltersgrenze, die Abschaffung der ,Rente ab 63', obwohl es die schon längere Zeit nicht mehr gibt, oder einem sogenannten flexiblen Renteneintritt", so Birkwald. Dabei werde oft verschwiegen, dass man durch eine längere Lebensarbeitszeit ohne Rentenbezug schon jetzt seine spätere Rente erheblich aufbessern könne. Die Arbeitgeber seien in der Pflicht, ihren Mitarbeitern gute Arbeit anzubieten, damit diese freiwillig länger arbeiteten.
Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verteidigt die Rente mit 63, die inzwischen eine Rente mit 64 ist, vehement. "Wer 45 Jahre lang gearbeitet hat, hat dann ein Recht darauf, früher abschlagsfrei in Rente zu gehen. Eine Rente mit 70, wie es viele Konservative wollen, wird es mit mir nicht geben", sagte Heil im Januar. Der Bundesarbeitsminister setzt auf Freiwilligkeit, damit die Beschäftigten länger arbeiten. Heils Vorgängerin im Arbeitsministerium, Andrea Nahles (SPD), hatte die "Rente mit 63" in der damaligen großen Koalition 2014 durchgesetzt.
Inzwischen ist klar, dass die Regelung den Mangel an Fachkräften gravierend verschärft. Jedes Jahr scheiden Hunderttausende Beschäftigte mehr aus dem Berufsleben aus als jüngere nachkommen. Über die "Rente mit 63" verabschieden sich jedes Jahr mehr als 200 000 Menschen vorzeitig in den Ruhestand. Die Zahl ist laut dem jüngsten Rentenversicherungsbericht in den vergangenen Jahren nicht zurückgegangen, 2022 traten auf diesem Weg 256 000 Menschen ohne Abschläge in die Rente ein, zuvor waren es 262 000 (2021) und 259 000 (2020) gewesen.
Erklärtes Ziel war, auf diesem Wege Menschen in gesundheitlich besonders belastenden Berufen ein früheres Ausscheiden zu ermöglichen, als Beispiel genannt wurde oft der Dachdecker. Daten der Deutschen Rentenversicherung und des Sozio-Ökonomischen Panels zeigen jedoch: Beschäftigte, die die Rente mit 63 in Anspruch genommen haben, geben viel seltener (7,5 Prozent) an, es gehe ihnen gesundheitlich "weniger gut" oder "schlecht" als diejenigen, die keine abschlagsfreie Rente beziehen (19,4 Prozent).
Laut dem Rentenforscher Axel Börsch-Supan profitieren vor allem Menschen mit mittlerem Einkommen von der vorzeitigen Rente nach 45 Versicherungsjahren. Laut Börsch-Supan sind es "besonders viele gut ausgebildete und dementsprechend gut verdienende Facharbeiter".
Die FDP sieht trotz der neuen Zahlen weiter Änderungsbedarf bei der "Rente mit 63". Die Entwicklung gehe zwar in die richtige Richtung, "fällt aber für einen großen Wurf gegen den Fach- und Arbeitskräftemangel noch zu gering aus", sagte Pascal Kober, der arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, der SZ. Deutschland verliere nach wie vor zu viele Arbeits- und Fachkräfte zu früh am Arbeitsmarkt. Besonders die gut ausgebildeten und gut verdienenden Facharbeiterinnen und Facharbeiter würden von der "Rente mit 63" Gebrauch machen, sagt Kober, Menschen, "die wir am Arbeitsmarkt so dringend benötigen". Deshalb sei eine Reform der Regelung weiter notwendig.