Als es endlich soweit ist, liegt fast ganz Deutschland friedlich in den Federn. Es merkt auch keiner nach dem Aufstehen. Kein Wecker blinkt, weil zwischenzeitlich der Strom ausgefallen ist. Dabei hat sich Deutschland gerade zum ersten Mal in der Geschichte komplett mit Ökostrom versorgt: am Neujahrsmorgen um sechs Uhr.
Das jedenfalls belegen die offiziellen Zahlen der Bundesnetzagentur, die auf der Plattform Smard für jede Stunde Angebot und Nachfrage im deutschen Stromnetz abbildet. Naturgemäß ist die Nachfrage an einem Neujahrsmorgen schwach, der Verbrauch liegt bei knapp 41 000 Megawattstunden. Das ist etwas mehr als die Hälfte dessen, was an einem normalen Werktag verbraucht wird. Allerdings weht in den frühen Morgenstunden des neuen Jahres auch ein ordentlicher Wind: Allein er stillt 85 Prozent der Stromnachfrage. Wasserkraft und Biomasse besorgen den Rest. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, sie sorgt erst mittags für zusätzlichen Ökostrom. "Niemand hat erwartet, dass wir die 100 Prozent ausgerechnet an einem Wintertag früh morgens erreichen", sagt Rainer Baake, zuständiger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Bisher galten Pfingsten oder der 1. Mai als heiße Kandidaten für die saubere Premiere: Ebenfalls Feiertage mit schwachem Verbrauch; aber gleichzeitig potenziell auch vielen Sonnenstunden.
Auch am Strommarkt geht das Ereignis nicht spurlos vorbei. An der Börse fällt der Strompreis am frühen Neujahrsmorgen auf minus 76 Euro pro Megawattstunde. Wer Strom erzeugt, muss in den ersten Stunden des neuen Jahres also Geld drauflegen, um ihn loszuwerden. Der Grund: Während Ökostrom erstmals mehr als genug Strom produziert, laufen konventionelle Kraftwerke weiter, vor allem für den Export. Doch sie erzeugen mehr, als gebraucht wird. "Das Geschehen zeigt, dass wir noch mehr Flexibilität brauchen", sagt Baake, "inflexible Großkraftwerke behindern die Energiewende". Das sehen Experten ähnlich. "Wir treten damit in eine neue Phase", sagt Felix Matthes, Energie-Experte beim Öko-Institut. "Die Erneuerbaren sind damit endgültig aus der Nische heraus." Nun schlage die Stunde des Marktes.
Denn wenn die Preise stark schwanken, dann nutzt das all jenen, die ihren Strom flexibel nachfragen können. Batterien und andere Speicher lassen sich aufladen, Kühlhäuser herunterkühlen. Bei negativen Preisen lässt sich damit sogar Geld verdienen. Wird Strom knapp, lässt sich die gespeicherte Energie teurer verkaufen. Mehr Flexibilität verlangt Matthes allerdings auch, aber nicht allein von konventionellen Kraftwerken. Je mehr Ökostrom im Netz sei, desto mehr müssten sich die Betreiber und Planer von Ökostromanlagen an den Bedürfnissen des Systems orientieren - so dass nicht zusätzlich produziert wird, wenn Strom schon im Überfluss vorhanden ist. "Derzeit gibt es dafür zu wenig Anreize", sagt Matthes.
Sturm Burglind brachte den nächsten Rekord
Einstweilen aber exportiert Deutschland weiter fleißig Strom - nach neuen Zahlen des Berliner Thinktanks Agora Energiewende unterm Strich so viel wie nie zuvor. Demnach flossen 2017 netto 60,2 Terawattstunden ins benachbarte Ausland, sieben Prozent mehr als im Jahr davor. Parallel wuchs aber auch die Kapazität der erneuerbaren Energien - auf mittlerweile 113 Gigawatt Leistung. Allein die Hälfte davon entfällt auf Windräder an Land und auf See. "Die Ziele für 2025 werden damit womöglich schon 2020 erreicht", sagt Agora-Chef Patrick Graichen. Allerdings nur im Strombereich: Bei Wärme und Verkehr tut sich derzeit so gut wie nichts. "Aber der 1. Januar hat uns auch gezeigt, dass 100 Prozent Ökostrom machbar sind." Auch die Netzbetreiber haben keine größeren Probleme verzeichnet.
Derweil haben sich die Rekorde schon fortgesetzt, durch das Sturmtief Burglind. Am Mittwoch erzeugten deutsche Windräder nach Angaben von Wind Europe 925 Gigawattstunden Strom - so viel wie nie zuvor.