Nahaufnahme:Her mit dem Handy

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Rachel Botsman: "Vertrauen ist heute ein Thema bei Aufsichtsratssitzungen. Das ist ein Fortschritt." (Foto: oh)

Rachel Botsman fordert ein Umdenken beim Thema Vertrauen, in der Gesellschaft ebenso wie in der Wirtschaft. Und sie verblüfft zuweilen ihre Zuhörer.

Von Lea Hampel

Wenn Rachel Botsman Vorträge hält, beschert sie manchem Zuhörer die aufregendsten 20 Sekunden seines Jahres. Denn Botsman, 41, macht gern ein Experiment. Sie bittet jeden im Publikum, sein Handy zu entsperren. Dann muss er es dem Sitznachbarn geben. Der darf damit 20 Sekunden lang machen, wozu er lustig ist. "Für dieses Experiment müssen Sie mir vertrauen", sagte sie im vergangenen Jahr beim DLD in München und zwinkerte. Vertrauen ist das Thema, mit dem sie sich seit Jahren befasst - und von dem ihr aktuelles Buch handelt, das an diesem Montag auf Deutsch erscheint.

Das Thema hat Botsman schon bewegt, als sie im Jahr 2005 bei der Clinton Foundation gearbeitet hat. Sie beeindruckte, dass das Vertrauen, das Bill Clinton als Präsident hatte, sich auf seine Stiftungsarbeit übertragen hatte. Später kandidierte Barack Obama fürs Weiße Haus und nutzte soziale Netzwerke, um Unterstützer zu mobilisieren. Umso spannender fand sie: Welche Art Vertrauen ist künftig wichtig?

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In dem Buch "Wem kannst du trauen?" analysiert Botsman, dass eine neue Phase der Menschheitsgeschichte anbricht: Früher hat Vertrauen lokal existiert, dann institutionell. Dass heute jemand in das Auto eines Fremden steigt, weil der online gute Bewertungen hat, markiert einen neuen Abschnitt. Vertrauen hat sich zu einzelnen Personen und Algorithmen verschoben, während gleichzeitig das Vertrauen in klassische Institutionen wie Politik und Medien erodiert.

Relevant ist diese Entwicklung laut Botsman in nahezu allen Bereichen: Fehlendes Vertrauen in der Gesellschaft kreiert ein Vakuum, das beispielsweise Populisten nutzen. Und ob einem Unternehmen Vertrauen entgegengebracht wird, ist entscheidend dafür, ob neue Produkte funktionieren. Botsman fordert ein neues Nachdenken über das Thema: Wie definieren wir Vertrauen und warum? Seit ihr Buch 2017 auf Englisch erschienen sei, habe sich vieles getan, findet sie. Das Vertrauen in Politik etwa sei schlechter geworden. Besser sei es in der Wirtschaft: "Vertrauen ist heute ein Thema bei Aufsichtsratssitzungen. Das ist ein Fortschritt."

Botsman gewinnt ihre Erkenntnisse anhand der Analyse von sozialen Netzwerken und des Austauschs mit ihren Studenten an der Saïd Business School der Oxford University. Manchmal tun es aber auch Alltagsbeobachtungen. Kürzlich habe ihr Sohn in Bezug auf seine Hausaufgaben gelogen, erzählt sie. "Erst war mein Reflex, ihn zu zwingen, die am Küchentisch zu machen, vor meinen Augen." Dann hat sie verstanden, dass das nur eine kurzfristige Lösung ist, und mit ihm darüber geredet, warum er keine Lust hat. Und ihm erklärt, dass es schlimmer sei zu lügen, als keine Hausaufgaben gemacht zu haben, weil das ihr Vertrauen beschädigt habe. "Das ist bei vielen Geschäftsführern auch so, dass die das erst begreifen müssen", sagt sie, lacht kurz und nennt dann eine Firma wie Facebook als Beispiel.

Rachel Botsman hat eigentlich bildende Kunst studiert. Dass sie bei Wirtschaftskonferenzen sprechen würde, lag nicht eben nahe. Vor ihrem ersten Auftritt in Sydney sei sie nervös gewesen, erinnert sie sich. Aber danach habe ihr sonst eher verhalten reagierender Ehemann zu ihr gesagt: "Das ist es, wofür du geboren wurdest." Mittlerweile macht es ihr Spaß. Und bei fast allen Vorträgen macht sie das Handytausch-Experiment. Das Publikum reagiert meist auf drei Arten, auch in München: Ein Teil der Gäste erstarrt, gibt sogar vor, kein Handy zu besitzen. Ein weiterer Teil kichert nervös. Der dritte twittert und fotografiert mit dem fremden Handy. Beendet Botsman das Experiment, rufen aber vor allem viele aus dem Publikum euphorisch: "Nein!"

© SZ vom 20.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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