Als der Autor Neal Stephenson vor fast 30 Jahren "Snow Crash" veröffentlichte, klangen diese Sätze noch dystopisch: "[Marietta] beschließt, dass sie zwischen 14 und 15 Minuten brauchen wird, um das Rundschreiben zu lesen. (...) Sie überfliegt das Rundschreiben und blättert ab und zu zurück, um so zu tun, als würde sie einen vorherigen Abschnitt noch einmal lesen. Der Computer wird das alles vermerken."
Stephenson schildert in seinem Roman eine Angestellte, die ihr Verhalten ändert, weil sie weiß, dass alles, was sie tut, erfasst, analysiert und an ihre Vorgesetzten übermittelt wird. Im Jahr 2020 ist das Realität. Dazu trägt nicht nur zwielichtige Überwachungs-Software bei, die immer mehr Unternehmen einsetzen, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Home-Office zu überwachen. Auch der größte und renommierteste Anbieter von Office-Programmen macht Angestellte zunehmend gläsern: Microsoft berechnet seit Kurzem einen "Productivity Score", kurz: PS. Der zeichnet unter anderem detailliert auf, wer in einem Unternehmen wie arbeitet.
Auf der Webseite des Konzerns liest sich das harmlos. "Lassen Sie mich es klarstellen: Der PS dient nicht dazu, Arbeit zu überwachen", schreibt Microsoft-Manager Jared Spataro. In Microsofts eigener Handreichung klingt das schon anders. "Überwachen der Benutzerproduktivität mit Produktivitätsbewertung" lautet eine Unterseite des Hilfebereichs. Zwar weist Microsoft darauf hin, dass "Teile dieses Themas möglicherweise maschinell übersetzt" wurden, doch eigentlich trifft es die deutsche Version ganz gut: Microsoft liefert Unternehmen so viele Daten über einzelne Nutzerinnen und Nutzer, dass der Begriff Überwachung gerechtfertigt ist.
Administratoren können nachvollziehen, ob und wie Angestellte Microsoft-Programme wie Word, Excel, Powerpoint, One Note, Outlook, Skype oder Teams nutzen. Sie erhalten Zugriff auf Dutzende Datenpunkte und sehen etwa, wann und wie lang jemand die Software öffnet, wie viele Dateien er aufruft, mit Kolleginnen teilt oder als Anhang verschickt, an wie vielen Tagen er im Teams-Chat aktiv ist und bei wie vielen digitalen Meetings er die Kamera anschaltet oder den Bildschirm teilt.
"Die Software von Microsoft schickt permanent Nutzungsdaten an den Konzern und ermöglicht damit potenziell eine lückenlose Überwachung vieler Arbeitstätigkeiten", sagt Datenschutzaktivist Wolfie Christl. Er arbeitet aktuell an einem Projekt über digitale Überwachung in Unternehmen, das die österreichische Arbeiterkammer fördert. Er hält nicht nur die Erfassung einzelner Mitarbeiter für problematisch, sondern kritisiert die Auswertung grundsätzlich. "Ich bezweifle, dass diese Produktivitätskennzahlen viel aussagen, befürchte aber, dass viele Unternehmen trotzdem versuchen werden, die willkürlichen Zielwerte zu erreichen, die Microsoft vorgibt." Auf Twitter schreibt Christl von "esoterischen Metriken" und bezeichnet die Office-Suite Microsoft 365 als "vollwertiges Überwachungswerkzeug für den Arbeitsplatz".
Bennett Cyphers von der Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation und Eliot Bendinelli von Privacy International warnen, dass der PS falsche Anreize setzen könne und tief in die Privatsphäre der Angestellten eingreife. Digitale Überwachung gefährde das Vertrauensverhältnis zwischen Vorgesetzten und Angestellten, es drohe ein "Datenschutz-Albtraum".
Noch deutlicher wird David Heinemeier Hansson, einer der Gründer der Software-Firma Basecamp, die teils mit Microsoft konkurriert. "Holy fuck", schreibt er. "Das Wort dystopisch ist nicht annähernd stark genug, um das Höllenloch zu beschreiben, das Microsoft damit geöffnet hat." Der PS sei das invasivste Überwachungsprojekt für den Arbeitsplatz, das flächendeckend eingesetzt werden könne.
Microsoft sieht das anders. "Der PS ist eine Opt-in-Erfahrung, die IT-Administratorinnen und -Administratoren Einblicke in die Nutzung von Technologie und Infrastruktur gibt", teilt eine Sprecherin mit. Das ermögliche es Organisationen, das Beste aus ihren technologischen Investitionen herauszuholen. Der PS lasse sich datenschutzkonform einsetzen. Es handle sich um eine optionale Funktion, die keine Bewertung für einzelne Angestellte berechne. Zudem ließen sich die Daten auf Wunsch anonymisieren und würden nach 28 Tagen automatisch gelöscht.
Einerseits hat Microsoft mit seinen Einwänden recht: Kein Unternehmen wird gezwungen, die Funktion zu nutzen. Der PS analysiert auch nur die angebliche Produktivität der gesamten Belegschaft, einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird kein Wert zugewiesen. Andererseits geht die Antwort am Kern des Problems vorbei. Denn sobald der PS aktiviert wird, sammelt Microsoft standardmäßig massenhaft Nutzungsdaten von einzelnen Angestellten.
Der Wert zwischen 100 und 800, der die Produktivität messen soll, bezieht sich aufs ganze Unternehmen - die Daten werden aber individuell erfasst und dargestellt. Administratorinnen und Administratoren müssen selbst aktiv werden, wenn sie die Auswertung anonymisieren wollen. Angestellte können der Überwachung nicht widersprechen und erhalten keine Benachrichtigung, wenn Vorgesetzte ihre Statistiken einsehen.
"Ich habe größte Zweifel, ob dieser Vorstoß von Microsoft mit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung vereinbar ist", sagt die grüne Netzpolitikerin Tabea Rößner. Die erhobenen Daten ließen schließlich viele Rückschlüsse auf einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu. "Menschenwürdige Arbeitsbedingungen sind in Deutschland hart erkämpft worden." Personal- und Betriebsräte müssten verbindlich miteinbezogen werden, wenn digitale Programme am Arbeitsplatz neu eingeführt würden. "Das gilt erst recht bei solcher Überwachungssoftware."
Unabhängig davon, ob es legal ist, den PS in Deutschland zu aktivieren, sollten Unternehmen vorsichtig sein. Etliche Studien der vergangenen Jahre zeigen, dass digitale Überwachung zwar die Effizienz von Angestellten erhöhen kann. Das geht aber oft zulasten des Vertrauens, der Zufriedenheit und des psychischen Wohlbefindens. Langfristig leidet die Unternehmenskultur, und die Produktivität sinkt.