Konjunktur:Deutschland gerät ins Hintertreffen

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Die Gründe für die unerwartet langsame wirtschaftliche Erholung hat Deutschland auch selbst zu verantworten. Im Bild: Das Schild "Closed" hängt an der Tür eines Geschäftes in Köln. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Impfchaos und Untätigkeit im Sommer: Der IWF korrigiert seine Wachstumsprognosen für gleich mehrere EU-Staaten deutlich nach unten. Der wirtschaftliche Einbruch des Jahres 2020 wird damit nicht vor Ende 2022 aufgeholt sein.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Wären es nicht Wachstumsraten, sondern Schulnoten, die der Internationale Währungsfonds (IWF) da alle drei Monate in seinem Weltwirtschaftsausblick veröffentlicht, dann müsste man sich um die Versetzung der EU-Schwergewichte Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien wohl langsam Sorgen machen. Statt um 5,7 Prozent, so gab der IWF am Dienstag bekannt, wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der vier Länder in diesem Jahr durchschnittlich wohl nur um 4,5 Prozent zunehmen. Das mag auf den ersten Blick gar nicht so dramatisch klingen, entspricht aber einem Wohlstandsverlust von mehr als 90 Milliarden Euro - 24 Milliarden davon allein in Deutschland - und bedeutet, dass der massive coronabedingte Einbruch des Jahres 2020 deutlich später wieder wettgemacht sein wird als bisher erhofft.

Die wichtigsten Gründe für die unerwartet langsame Erholung liegen auf der Hand - und sind hausgemacht: härtere und längere Lockdowns, als sie nötig gewesen wären, wenn die Regierungen die Zeit zwischen der ersten und der zweiten Pandemiewelle im Sommer und im Herbst besser genutzt hätten, sowie Pannen beim Start der Impfprogramme, weil offensichtlich zu wenig Vakzin bestellt wurde. Anders als in anderen Weltregionen, wo es durchaus rascher aufwärtsgehen könnte als bisher erwartet, überwiegen in Mitteleuropa nach Einschätzung des IWF derzeit die konjunkturellen Risiken eindeutig die Chancen.

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Für Deutschland sagen die Experten nach dem wirtschaftlichen Einbruch um 5,4 Prozent im vergangenen Jahr für 2021 einen Wiederanstieg des BIP um 3,5 Prozent voraus. Das sind 0,7 Prozentpunkte weniger als noch im Oktober angenommen. Die Prognose von plus 3,1 Prozent für 2022 blieb unverändert. Zusammen genommen bedeuten die Zahlen, dass die Bundesrepublik nicht vor dem Herbst kommenden Jahres wieder jenes BIP-Niveau erreichen wird, von dem aus sie Anfang 2020 in die Corona-Rezession gestartet war. Andere Industrieländer sind da sehr viel schneller: Die USA und Japan etwa werden die Scharte bereits in diesem Jahr wieder auswetzen - und dabei sind die Pläne des neuen US-Präsidenten Joe Biden für ein weiteres, umgerechnet fast 1,6 Billionen Euro umfassendes Hilfsprogramm noch nicht einmal berücksichtigt. China hat den Verlust sogar schon wieder wettgemacht.

Besonders scharf fällt die Korrektur des Währungsfonds für Italien aus, wo die Experten für dieses Jahr statt 5,2 nur noch 3,0 Prozent Wachstum prognostizieren. Für Spanien und Frankreich sagt der IWF Zuwächse von 5,9 (minus 1,3 Punkte) beziehungsweise 5,5 Prozent (minus 0,5 Punkte) voraus. Die deutlichen Abwärtskorrekturen fallen auch deshalb so ins Auge, weil die Ökonomen ihre Schätzung für die gesamte Weltwirtschaft leicht um 0,3 Punkte auf 5,5 Prozent anhoben. Dafür verantwortlich sind - neben den USA und Japan - vor allem große Schwellenländer wie Indien, Brasilien und Mexiko.

"Viel wird nun davon abhängen, wie das Rennen zwischen einem mutierenden Virus und den Impfungen ausgeht"

IWF-Chefvolkswirtin Gita Gopinath räumte bei der Präsentation der Zahlen ein, dass sämtliche Schätzungen mit großen Unsicherheiten behaftet seien. Einerseits habe sich die Zahl der Menschen, die in Verbindung mit dem Coronavirus gestorben seien, in den gerade einmal drei Monaten seit Veröffentlichung des letzten Konjunkturausblicks weltweit auf mehr als zwei Millionen verdoppelt. Andererseits hätten viele Länder ambitionierte Impfprogramme gestartet. "Viel wird nun davon abhängen, wie das Rennen zwischen einem mutierenden Virus und den Impfungen ausgeht", sagte Gopinath.

Der IWF hatte in den vergangenen Monaten schon mehrmals darauf verwiesen, dass der Kampf gegen die Pandemie und die wirtschaftlichen Einbrüche aus seiner Sicht keineswegs Gegensätze seien. Das Gegenteil sei der Fall: Eine entschlossene Bekämpfung des Virus, auch mit raschen, harten Lockdowns, sei geradezu die Voraussetzung für eine wirtschaftliche Erholung, weil die Menschen erst dann wieder in Restaurants, Geschäfte und auf Reisen gingen, wenn sie keine Angst mehr hätten, sich anzustecken.

Zwei Jahrzehnte der Verbesserung werden zunichtegemacht

Wie groß die volkswirtschaftlichen Schäden der Corona-Krise weltweit sind, lässt sich erahnen, wenn man die aktuellen Konjunkturprognosen mit jenem langfristigen Wachstumspfad vergleicht, von dem der IWF vor Ausbruch der Krise ausgegangen war. Ohne den Einbruch des Jahres 2020, der die gesamte Wachstumskurve dauerhaft nach unten verschoben hat, wäre die globale Wirtschaftsleistung bis 2025 demnach um umgerechnet rund 18 Billionen Euro höher ausgefallen, als sie nach den jetzt neuen Vorhersagen ausfallen wird. Diese 18 Billionen fehlen in den Kassen der privaten Haushalte, Unternehmen und Regierungen.

Angesichts ihres besseren Zugangs zu Impfstoffen und der deutlich größeren finanziellen Möglichkeiten, die die Industriestaaten im Kampf gegen die Krise mobilisieren können, befürchtet Gopinath, dass der jahrelange wirtschaftliche Aufholprozess vieler Schwellenländer gestoppt oder in einigen Fällen sogar umgekehrt werden könnte. Das gelte besonders für Länder, die stark von Ölexporten oder vom Tourismus abhängig seien, sagte sie. Aber auch innerhalb vieler Staaten seien die Lasten der Krise sehr ungleich verteilt. Zu leiden hätten vor allem Menschen mit schlechterer Ausbildung, Junge, Frauen und Arbeitnehmer ohne Festanstellung. Fast 90 Millionen Menschen seien sogar von Hunger bedroht. Damit würden zwei Jahrzehnte der Verbesserung zunichtegemacht.

Um die ökonomischen Verluste so klein wie möglich zu halten und den Wiederaufschwung der Weltwirtschaft zu beschleunigen, fordert der IWF unter anderem eine rasche Ausweitung der Impfungen, die globale Bereitstellung von Vakzinen, die Fortführung von Überbrückungshilfen für Firmen, Arbeitnehmer und Verbraucher sowie staatliche Mehrausgaben in solchen Bereichen, in die ohnehin deutlich mehr investiert werden müsse - den ökologischen Umbau der Wirtschaft etwa, die Digitalisierung oder die Bildung. Darüber hinaus müssten die Industriestaaten die Entwicklungsländer mit Krediten, Zuschüssen und auch Schuldenerlassen im Kampf gegen Corona unterstützen. Schließlich seien die jüngsten Virusmutationen, die den Kampf gegen die Seuche zusätzlich erschwerten, ein deutliches Signal an die Weltgemeinschaft, so Gopinath: "Die Pandemie ist so lange nicht vorbei, bis sie überall vorbei ist."

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